Ein neuer Morgen
Sie hatte irgend etwas wirres
geträumt und wachte fast so gerädert auf wie sie am gestrigen
Abend eingeschlafen war. Die
Dusche am Morgen war lauwarm und hatte kaum Druck. Ein
Umstand, den der Besitzer nur
Schulterzuckend zur Kenntnis genommen hatte. Als sie in den
Aufenthaltsraum trat, war nur
einer der Tische gedeckt. Schließlich war sie auch die einzige
die hier in der Pension wohnte.
Sie setzte sich und war froh, als der alte Grube mit dem
Kaffee kam. Grube, das war der
Pensionsbesitzer. Er ließ es sich wohl nicht nehmen, seine
Gäste persönlich zu bewirten.
Eine Note, die ihr an dem Haus gefiel, war sie doch sonst
hauptsächlich nur die großen,
anonymen Hotels gewohnt.
"Sie sehen ein bisschen
müde aus..." meinte er lächelnd und schenkte ihr Kaffee ein.
Jessica
nickte. "So fühle ich
mich auch. "War wohl ein ergebnisloser Tag gestern...?" fragte
er.
Jessica nickte und stellte den
Kaffee zur Seite. "Ich habe gehört, sie haben sich ungehört. Hier
ein bisschen, da ein
bisschen...?" fuhr er fort. Jessica sah ihn müde an. Vielleicht
sollte das
eine Entschuldigung für sein
seltsames Verhalten vor dem Fernseher werden. Doch weiter
sagte er nichts. Jessica
nickte ergeben und griff zum Toast. "Ja, stimmt..." sagte sie.
"Und...? Etwas
erfahren...?". Jessica horchte auf. Die Stimme und Tonlage des Mannes
hatten
sich verändert. Sie war
neugieriger geworden.
Lauernder...
Aber sie konnte sich auch
täuschen.
"Nein, Nichts. Die Polizei
weiß auch nichts. Entweder war es ein Gewaltverbrechen oder die
drei sind auf
Abenteuerurlaub...".
"Wollen wir lieber das
hoffen..." sagte Grube nur und wandte sich zum gehen.
"Wer ist eigentlich der
alte Harms?" fragte Jessica beiläufig und biss in den Toast. Sie
hielt
beinahe inne als sie Grubes
Reaktion bemerkte. Er wurde bleich, biss sich auf die Unterlippe
und rückte einen Schritt vom
Tisch ab...
"Was wissen sie von
ihm?" fragte er. Zu schnell und zu hastig um sein Erstaunen zu
verbergen. "Über wen? Den
Alten Harms?" fragte Jessica und beobachtete die Reaktion
Grubes genauer. Der nickte.
"Woher haben sie seinen Namen?" fragte er. Jessica hob die
Schultern. "Wie sie schon
sagten. Von hier und da...". Sie zögerte und setzte dann nach:
"Ich
habe ihn sogar
besucht...!".
Jetzt geriet der Mann ihr
Gegenüber doch sichtlich aus der Fassung. "Besucht? Sie haben ihn
besucht?" fragte er
ungläubig. Seine Augen waren geweitet. Was erstaunt ihn denn daran?
Jessica nickte nur.
"Am Abend? Alleine?"
fragte er erstaunt.
Jessica lachte. "Aber
sicher. Es war spät und natürlich war ich alleine..." antwortete
sie
schmunzelnd. "Es war ein
netter, kurzer Besuch in seinem Haus...".
Grube schien noch tiefer
erschüttert. Er kam zu ihrem Tisch zurück und stützte sich darauf ab.
Seine Knöchel traten weiß
unter der Haut heraus, so fest griff er um die hölzerne kante des
Tisches. "Er hat sie
hereingelassen...?" fragte er leise.
"Ja aber
natürlich...!" antwortete Jessica die sich immer mehr über das
Benehmen des Mannes
wunderte. "Es war kalt, es
war dunkel und ich wollte mit ihm reden...".
Grube richtete sich ruckartig
auf. "Das ist nicht gut..." sagte er leise. Jessica musterte ihn
überrascht. Es schien fast so,
als würde der alte Grube die Fassung verlieren, als hätte ihn
irgend etwas tief im inneren
erschüttert.
„Ist etwas mit dem Mann?“
fragte Jessica und Grube antwortete eine Spur zu schnell mit
seiner Verneinung: " Nein,
alles in Ordnung...!".
Danach hatte er es besonders
eilig, verließ den Aufenthaltsraum. Jessica sah ihm nach. Es
schien ihr fast so, als hätte
Grube Angst vor dem Alten. Oder würde ihn Hassen. Oder irgend
etwas was sie nichts anging
aber neugierig machte. Aber so waren die Leute in diesen kleinen
Orten oft. Es gab immer den
einen oder anderen, der gemieden wurde. Vielleicht war der alte
Mann in seinem einsamen
Bauernhaus die Person in diesen Ort?
Nach dem Frühstück ging sie
auf ihr Zimmer, zog die Bettwäsche ab und packte ihren Koffer.
Dazu gehörten auch die zwei
Mappen aus der Redaktion und dem Archiv über diese Gegend.
gedankenverloren blätterte
Jessica sie noch einmal durch. Die Pappmappen enthielten meist
Berichte der hiesigen Zeitung
und größerer Blätter über das Verschwinden der drei. Sie waren
kurz hintereinander
verschwunden und seit dem nicht mehr wieder aufgetaucht. Obwohl die
Polizei ein Gewaltverbrechen
nicht ausschließen konnte deutete auch nichts daraufhin. Und
ein ähnlicher Fall eines
Jungen klärte sich vor einiger Zeit sogar wieder auf. Er war für einen
Monat aus Gruben verschwunden
und in Frankfurt von der Polizei aufgegriffen wurden. Man
vermutete, das der Fall hier
eben so lag. Jessica klappte die Mappe zu und ließ sie in den
Koffer gleiten. Die zweite
enthielt nur Fotos. Nichts wichtiges. Jessica verstaute auch sie
sorgsam, sah dann plötzlich
mit glasigen Augen durch das Zimmer und holte die Aufnahmen
wieder hervor.
Schnell blätterte sie die
Fotos durch. Meist waren es Bilder für und aus den Zeitungen: Sie
zeigten die Gesichter der drei
Verschwundenen. Doch was viel interessanter war, waren die
Bilder der Eltern. Wie die
Polizei und Presse besaß auch Jessica Kopien davon. Sie zeigten
die Kinder beim Spielen, einen
beim Fußball. Es waren die Bilder der Kinder. Und ein paar
wenige zeigten sie als kleinere
Kinder. Jessica nahm eines dieser Fotos und hielt es hoch. Ihre
Augen weiteten sich. Zwei
Kinder saßen auf diesem Foto auf dem Heck eines Pferdewagens
und lachten. Ein kleiner Junge
mit blonden Locken, ein anderer mit braunen Haaren.
Jessica legte das Foto
nachdenklich zurück zu den anderen. Was war an dem Bild so seltsam,
das es ihre Aufmerksamkeit auf
sich zog? Sie blickte das Foto nachdenklich an, sah beide
Kinder, ihr lachen, nahm die
Züge der Gesichter in sich auf, durchforstete ihre Gedanken und
Erinnerungen und zuckte dann
zusammen.
Es waren die gleichen Kinder,
die sie auf den Fotos bei dem alten Grube gesehen hatte. Sie
war sich sicher. Auf ihre Augen
konnte sie sich verlassen. Sie hatte für Gesichter und Bilder
ein fast fotografisches
Gedächtnis.
Sie sah wieder auf das Foto.
Warum hatte der Alte Bilder der
Beiden bei sich stehen?
Und warum zeigte Grube eine
fast panische Reaktion bei dem Namen Harms?.
"Bestimmt alles
Zufall..." flüsterte sie sich selber zu und nickte.
"Bestimmt...". Es war
fast, als hallten ihre Worte in dem Raum wieder. Aber das Foto in ihrer
Hand zitterte... Sie
packte weiter ein. Doch da meldete sich etwas in ihr, das zweifelte und
fragte. Sicher
konnte der Alte die Bilder bei
sich stehen haben, weil er die beiden kannte. Sagte er ja auch.
Aber warum zehrte da eine
Stimme tief in ihr? Was war es, das sie so stutzig werden ließ?
Konnte ihr der Alte vielleicht
weiterhelfen? Sie hatte das Gefühl bereits etwas wichtiges
bemerkt zu haben, das sie
dennoch übersah.
Eine Stunde später klingelte
Jessica bei den Eltern eines der beiden Jungen. Sie stellte sich
vor, was sie tat und warum, Die
Eltern nickten und baten sie herein. Auch sie hatten schon
von ihr gehört. Jessica sah in
die beiden Gesichter zerstörter Menschen, die nach der letzten
Hoffnung suchten, nach Hoffnung
ihre Kinder wiedersehen zu können. Die Frau wirkte blaß
und abgespannt, der Mann eine
Spur zu ruhig. Und beide hatten einen seltsamen Glanz in den
Augen. Schmerz und Angst.
Die Frau versuchte sich gefasst
zu geben als sie Jessica schilderte, was geschehen war. Nach
einem normalen Tag kam ihr Sohn
einfach nicht wieder. "Einfach nicht wieder..." Sie
wiederholte diese Worte.
Jessica sah das Zittern ihrer Hände und den kummervollen Blick des
Vaters. Und sie verstand. Diese
beiden Menschen litten fürchterliche Qualen. Niemand
konnte ihnen sagen, was mit
ihren Kindern war: Ob sie lebten, verunglückt waren oder
irgendwo von einem Irren
verscharrt wurden oder in kalten Straßen der Großstadt standen und
andere, furchtbare Dinge
taten...
Und doch waren die beiden
Eltern Hilfsbereit, boten sogar Kaffe an den Jessica dankend
ablehnte. Es tat ihr leid
erzählen zu müssen auch nichts neues zu haben. Beide Eltern waren
aber froh darüber, das die
Presse noch einen Aufruf starten wollte. Jessica traute sich nicht zu
sagen, das die nicht der Grund
war, warum sie nach Gruben geschickt wurde. Irgendwann
fragte sie beiläufig, ob die
Kinder den alten Harms kannten.
Zum ersten Mal mischte sich der
Vater ein : "Den alten Harms. Bei Gott, bestimmt nicht! Die
Kinder hier in der Gegend haben
eine Heidenangst vor ihm. Sie erzählen sich eine Menge von
Gruselgeschichten über den
Alten. Ich glaube nicht einmal, das unser Sohn je in der Nähe des
Hauses des Alten war...! Wir
selbst als Kinder sind nicht einmal in die Nähe des Hauses
gegangen. Schon damals
nicht...".
Jessica nickte. Also eine
falsche Idee, die sie plötzlich gehabt hatte.
Die Mutter nickte auch und
ergriff ebenfalls das Wort: "Harms ist ein alter, sonderbarer Kauz.
Aber harmlos. Er wohnt schon
ewig da draußen vor dem Dorf. früher habe ihn mal ein paar
Felder gehört. Früher, bevor
darauf Straßen gebaut wurden. Nun lebt er eben alleine. Aber er
tut keiner Seele etwas. Er ist
etwas kauzig und lässt sich in der Stadt nicht sehen und das passt
einigen nicht. Einige der
Häuser hier sollen ihm früher aber sogar einmal gehört haben...“.
Sie knetete nervös ihre Hände
und sah Jessica an. "Um ehrlich zu sein, keines der Kinder geht
gerne in die Nähe des Hauses.
Sie fürchten den Alten, weil er eben nicht im Dorf wohnt... Es
wird viel erzählt, wissen
sie...?!".
Jessica stimmte den beiden zu.
Sie brauchte nur in die sorgenzerfressenen Gesichter sehen um
auch nur entfernt zu spüren,
was diese beiden Menschen fühlten und durchmachten.
Später verabschiedete Jessica
sich. Einer plötzlichen Eingebung folgend fuhr sie zu den Eltern
des anderen Jungen auf dem
Foto. Auch hier kam sie erfreulicher Weise ins Gespräch. Und
auch diese Eltern zeigten sich
besorgt. Auch sie klammerten sich an die Hoffnung die beiden
und der dritte seien in die
nahe Großstadt geflohen. Aber auch hier erfuhr Jessica, das der
Sohn den Alten Harms gemieden
hatten und nicht kennen würde.
Wieder in ihrem Wagen fragte
sie sich, warum keines der Kinder den Alten kennen sollte und
warum er dann aber Bilder von
ihnen in seiner Wohnung hatte. Sicher, vielleicht weil sie
verschwunden waren. Vielleicht
zeigte er Mitgefühl und stellte deshalb ihr Bild auf. Es
erschien ihr zu abwegig, das
der Alte irgend etwas wissen könnte oder selbst an den
Verschwinden Teil haben konnte.
Seltsam mochte der Einsiedler sein aber bestimmt kein
Wahnsinniger, der jugendliche
kidnappte. Sie lachte über den abwegigen Gedanken. Und
doch flüsterte eine leise
Stimme in ihr etwas ganz anderes. Leise und eindringlich. Und das
Lachen fror auf ihrem Gesicht
ein, bis es verstummte. Aber vielleicht war der alte Mann die
Spur zu dem Verschwinden der
Kinder und war sich dessen selber nicht bewusst. Vielleicht
wusste er etwas, das für ihn
ganz belanglos erschien aber für den Hintergrund der Geschichte
bedeutsam war?
Und immer noch ging das Foto
ihr nicht aus dem Kopf. Irgendwie hatte sie das Gefühl sie
würde etwas daran stören. An
dem Foto das sie bei sich trug oder auf dem Foto bei? Sie rief
sich alle Details ins
Gedächtnis zurück; So plastisch, das ihr Fast das Foto vor den Augen
erschien. Doch ihr fiel nichts
besonderes daran auf. Und doch war da etwas. Etwas, das sie
nur nicht sah und bemerkte,
weil es im Ganzen unterging.
Vor allen Dingen woher hatte
der Alte das Foto? Beide Familien hatten keinen Kontakt mit
ihm. Sie mieden ihn sogar. Auch
ihre Kinder. Wie kam der Mann also an ein Foto zwei der
verschwundenen Kinder? Und vor
allem warum sagte er, es seien "irgendwie seine" Kinder.
Jessica erinnerte sich noch
genau daran, das sie ihn gefragt hatte. Warum hatte er ein Foto von
zwei der verschwundenen? Zwei
Kinder und ausgerechnet diese reißen aus?
Zufall?
Sicher...!
Aber irgend etwas war mit dem
Foto nicht in Ordnung, das ihr keine Ruhe ließ. Sie versuchte
sich die Einzelheiten in
Erinnerung zu rufen. Nochmals. Detail für Detail. Die beiden Kinder
hatten gelacht. Sie hatten
normal Sommerkleidung getragen. Jessica wusste zwar nicht mehr
welche und in welcher Farbe.
Doch das war es nicht, was sie störte. Irgend etwas anderes.
Was war noch auf dem Bild?
Eine Schaukel! Ein Teil eines
Gebäudes!
Jessica zuckte im Sitz zusammen
uns saß steif da. Die Schaukel war nicht das besondere. Es
war das Haus, das im
Hintergrund zu sehen war! Oder viel mehr den Teil davon. Sie kannte
diesen Teil, weil sie durch ihn
gegangen war um den Alten zu Besuchen!
Es war das Haus des alten
Harms, die Front, das Fachwerk!
Und die Schaukel musste direkt
davor stehen. Und das obwohl beide Elternteile ihr
versicherten, ihre Kinder,
nein, ALLE Kinder würden den Alten und sein Haus meiden. Wie
aber kam er dann zu einem Bild
mit den beiden vor seinem Haus und auf seiner Schaukel?
Wieder Zufall?
Wenn ja, was für ein
zufälliger Zusammenhang mochte da bestehen. Und warum kannte der
Alte alle Verschwundenen?
Vielleicht sollte sie ihm doch
noch ein paar Fragen stellen?
Eventuell kannte er die Kinder
und wenn sie durchgebrannt waren, was sie für alle Elternteile
stark und sehnlichst hoffte,
dann hatten sie ihm etwas erzählt. Vielleicht spielten sie auch nur
im Garten des Alten. Ohne das
Wissen ihrer Eltern, Kinder taten dauernd etwas, was die
Eltern nicht wussten oder
wollten. Aber irgend etwas machte sie sehr nachdenklich und aus
ihrem tiefen inneren klopfte
eine zaghafte Stimme an die etwas erwähnte, das Jessica noch
nicht verstand. Es war ein
seltsamer Zufall, das zwei der verschwundenen Kinder aus
unterschiedlichen Familien auf
einer Schaukel saßen und in die Kamera lächelten. In die
Kamera eines alten Einsiedlers,
den alle Kinder doch so meiden sollten. Jessica nagte an ihrer
Unterlippe. Etwas stimmte an
dem Ganzen nicht und sie wusste nicht, was es war. Da war nur
etwas in ihr, das drängte und
ihr keine Ruhe ließ. Ein starkes Gefühl, irgend etwas übersehen
oder er erkannt zu haben... |