Das Ende des Alptraumes...

 

Irgendwann öffnete sie wieder die Augen. Sie brauchte lange, bis sie erkannte wo sie sich

befand. Kalt und Hart war der Sand des Weges unter ihr. Ihr Kopf war in Richtung des

Hauses gedreht. Es schwelte noch. Doch der neue, junge Tag war bereits Hell genug, das sie

die Ruine erkennen konnte. Ihre Rippen taten ihr weg, ihr ganzer Körper war ein einziges

Zentrum von Schmerz. Sie schmeckte Blut auf den Lippen, ihr Kopf dröhnte und doch hätte

sie schreien können. Sie lebte. Der Alte oder was immer er war hatte sie nicht bekommen.

Warum auch immer...

Als die ersten Fahrzeuge aus der Stadt kamen, saß sie an einen der nahen Bäume gelehnt und

sah zu den Trümmern des Hauses. Jede Sekunde, Jede Minute hatte sie seit dem

Wiedererlangen ihres Bewusstseins darauf gewartet, das der Alte aus den Trümmern oder den

Wald sprang und über sie herfiel. Sie glaubte es so stark, das sie leise wimmernd die Hände

der rotgekleideten Helfer zur Seite stieß. Doch sie war zu schwach sich erfolgreich zu wehren.

Feuerwehrleute betten sie auf eine Bahre bis der Rettungswagen da war. Stimmen prasselten

auf sie nieder, doch Jessica verstand sie nicht. Ihr Verstand war einfach dicht vor dem totalen

Zusammenbruch. Strapazen, Alpträume und Schmerzen der letzten Stunden und Tage zehrten

an ihr und rissen sie kurzzeitig wieder in eine dunkle Ohnmacht.

Immer wenn sie aufwachte sah sie zu dem schwelenden Haus hinüber. Ab und an nahm eine

Gestalt der Helfer ihre Sich. Dann wimmerte sie solange, bis er zur Seite trat. Sie musste das

Haus sehen. Er konnte ja jederzeit daraus hervorspringen. Jeden Augenblick konnte er aus den

Wald kommen oder über die Felder. Ihr Blick suchte gehetzt die Gegend ab...

Als sie in den Rettungswagen getragen wurde lächelte sie. Es war ein boshaftes Lächeln. Sie

schenkte es dem, was einmal sein Haus gewesen war.

Als der Wagen anfuhr, sie eine Spritze und anderes bekam und der Arzt auf sie einredete,

nahm sie ihn gar nicht mehr war. Sie sah nur zu dem Milchglasfenster des Rettungswagens

und erkannte die Helligkeit dahinter. Helligkeit, die ihr mehr als alles andere zeigte, das sie

lebte. Helligkeit war gut, denn wo es hell war, wurden die Schatten vertrieben. Verzerrte

Schatten, wie das, was einmal der alte war, als Abbild geworfen hatte...

Aber jetzt war da die Helligkeit...!

Und das war alles, was zählte!

*

Tage später hatte die Polizei sie verhört. Zuerst war der Beamte davon ausgegangen, sie hatte

das Haus mutwillig in Brand gesetzt. Und das war ja auch die Wahrheit. Also erzählte sie ihre

Geschichte.

Betäubung- und Schmerzmittel hielten sie bei Verstand und Bewusstsein. Doch die

zweifelnden Geschichte der Leute um sie herum zeigten ihr, was man von ihren Worten hielt.

Das änderte sich auch bei dem zweiten Besuch der Beamten Tage später nicht.

Ärzte redeten von dem Schock und die Polizei glaubte ihnen. Bis die Beamten den Keller des

Hauses fanden. Ihren Worten hatte man keinen Glauben geschenkt. Aber man fand den Alten

nicht und so musste eben auch im Keller gesucht werden. Man fand den Raum aus ihren

Erzählungen. Eingestürzte Mauern hatten sich verzogen und die Tür des Ganges dahinter

angezeigt. Es dauerte Tage, bis der Schutt beseitigt war und die ersten Branduntersucher die

Räume dahinter betreten konnten...

Dann kamen die Spezialisten.

Männer in weißen Kitteln und Anzügen durchstreiften den Gang mit den Nischen. Sie fanden

die Glascontainer und die Menschen darin.

Es waren zahlreiche Personen. Die Mehrzahl galt in vielen Bereichen Süddeutschlands als

Vermisst. Über Jahre, Jahrzehnte verstreut. Man fand auch Personen, die man nicht einordnen

konnte. Die beiden Soldaten. Die Frau mit den schwarzen, hohen Stiefeln. Das Datum auf den

Podesten wurde mit einem spöttischen Lächeln abgetan. Doch dann nahm man

Gewebeproben und bestimmte ihre Eigenarten und das Alter, verglich alte Vermisstenlisten

und wurde fündig...

Da verschwand das spöttische Lächeln aus den Gesichtern und machte Überraschung,

Verwirrung und Neugier Platz. Und Unglauben. Die Wissenschaftler wurden mehr, die

Polizei wurde verstärkt. Der Wald wurde abgeriegelt. Hohe Beamten und Sondereinheiten aus

dem ganzen Land kamen, sahen und staunten. Man fand den Mechanismus der Tür. Er war

Jahrzehnte Alt aber mit einer feinen Motorik ausgestattet, die hochpräzise war. Man fand

Personen die laut Gewebeproben über hundert Jahre Alt waren. Auch noch weit aus älter.

Einige konnten in akribischer Arbeit in alten Stadtarchiven als verschwunden eingeordnet

werden. Irgendwann waren sie als vermisst gemeldet wurden. Da war die junge Frau, die

1932 von einen Ball verschwand, der junge Soldat Heiko der von einem Freigang nicht mehr

zurückkehrte, da war die Mutter zweier Kinder die in den zwanziger Jahren verschwand. Und

viele Fälle mehr.

Familien wurden die unversehrten Körper ihren Angehörigen Jahrzehnte nach ihren

Verschwinden übergeben. Es gab Fragen aber keine offiziellen Antworten.

Es gab nur das Schweigen.

Und Jessica brauchte ihre Zeit. Sie war lange in dem Krankenhaus und in Kliniken.

Schürfwunden heilten, die angebrochenen Rippen ebenfalls. Auf Grund von Anraten und

ihren eigenen Gedanken änderte sie ihre Geschichte so um, das sie anders, glaubhafter wirkte.

Und sie wurde ihr geglaubt. Auch weil man glauben wollte, da sich anderes nicht finden ließ.

Zuerst hatte sie protestiert, dann aber resigniert. Sie wurde wieder und wieder verhört. Viele

Fragen wurden ihr Gestalt, die sie selbst nicht einmal für sich beantworten konnte. Bis sie

eine Geschichte wiedergab und selbst fast glaubte, die nicht diejenige war, die sie erlebt hatte.

Medikamente und unzählige Gespräche verdrängten das, was als Wahrheit in ihr war. Aber

selbst das stärkste Mittel half nicht gegen die nächtlichen Träume...

Der Alte wurde nicht gefunden. Trotz Fahndung und intensiver Suche. Jessica lächelte

schwach als man ihr das erzählte. Sie hatte sowieso nicht mehr daran geglaubt. Sie dachte

dabei nur an den verzerrten Schatten, der sie gejagt hatte.

Ein Blick in den Spiegel zeigte ihr die gleichen blauen Augen wie eh und je. Das verbrannte

Haar wach nachgewachsen. Blond und leicht gelockt hing es bis zu ihren Schultern. Blond bis

auf eine handbreite Strähne auf ihrer rechten Kopfseite. Die Ärzte sagten etwas von Stress

und Pigmentstörungen. Doch Jessica wusste Es besser und so widersprach sie nicht. Sie hatte

in den letzten Monaten schon gelernt, nicht zu widersprechen.

Ihre Finger glitten durch das fast weiße Haar an diesen Stellen. Es waren die Haare, die der

Alte an ihr berührt hatte. Sie lächelte unsicher in den Spiegel und sah wieder in ihre Augen.

Dann dachte sie zurück.

Zurück an die Nacht vor dem Haus. Im Feuer hatte sie das Gesicht des Alten gesehen. Immer

wenn sie in ihre eigenen Augen sah, sah sie die Gestalt des Alten. Schwarz. Kein weiß der

Augäpfel, kein blau mehr von Pupillen. Nur diese Schwärze die sich tief in ihr gefressen

hatten und sie Nacht für Nacht schweißgebadet aus den Träumen riss. Träume, in denen sie

Flammen und die Hände des Alten Mannes umkrallt hielten. Sie wusste immer noch nicht,

was er war. Auch die viele Polizei und anderen konnte ihr keine Antwort geben. Zudem war

sie dem Schrecken als einzige begegnet und so war es kaum verwunderlich das die anderen

nicht all zu tief nachhakten.

Die Träume verfolgten sie auch dann noch, als sie viele, viele Monate später einen Platz in

der Redaktion, ein eigenes Büro und eine neue Wohnung bekam.

Irgendwann war endlich Ruhe!

Ruhe vor den Fragen, den Ärzten, der Polizei, den ungläubigen Bemerkungen. Endlich war

sie wieder für sich selber.

Und dann stand sie nachts oft in ihrer kleinen Wohnung im oberen Teil des kleinen

Hochhauses in Aschaffenburgs. Und sie sah durch die großen Scheiben der dunklen Stadt

unter sich. Dann kamen die Fragen die sie am tage von sich schieben konnte. Fragen um das,

was geschehen war und um das, was sie erlebt hatte. Bohrende Fragen und die Ungewissheit,

nicht zu wissen was sie da erlebt hatte. Sie war in etwas hereingestolpert, das sie nicht

verstehen konnte. Etwas, das fast ihr Leben und ihren Verstand gekostet hatte.

So stand sie da, mit einem Drink in der Hand und sah hinaus auf die Lichter des nächtlichen

Aschaffenburgs. Jedes Mal, wenn sie einen Schluck trank, zitterten ihre Hände. Sie blickte in

ihr Spiegelbild des dunklen Fensters und immer wieder meinte sie, etwas hinter sich zu

entdecken. Immer dann strichen die schmalen, zierlichen Hände nervös übereinander und

versuchten vergeblich das zittern zu bändigen.

Denn sie wusste, ER war irgendwo da draußen!

Wo auch immer...

Und immer dann kam die Angst!

Ihre Hand lag ruhig auf dem kühlen Glas des Fensters. Sie spürte dessen Härte und Kälte

unter den Fingerspitzen.

Und sie hörte die stille Angst tief in sich und blickte stumm in die Dunkelheit über den

schwachen Lichtern der Stadt...

Sie wartete...

Auf Ihre Angst...

Auf Ihn...

 

E N D E

 

(von Raimund Parker)

 

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