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Carmilla IV: Ihre Gewohnheiten. Ein kurzer Spaziergang Ich habe bereits erwähnt, daß ich sie in vielerlei
Hinsicht reizend fand. Manches an ihr gefiel mir allerdings nicht so gut. Ich will zuerst ihr Äußeres beschreiben. Für eine junge
Dame war sie ungewöhnlich groß. Sie war schlank und wunderbar graziös.
Abgesehen davon, daß ihre Bewegungen etwas auffallend Träges hatten,
verriet nichts an ihr, daß sie eine Rekonvaleszentin war. Sie hatte einen
lebhaften, strahlenden Teint und ein schmales, wohlgeformtes Gesicht mit
großen, dunklen, glänzenden Augen. Ihr Haar war herrlich. Nie habe ich
üppigeres und längeres gesehen als das ihre, wenn sie es frei über die
Schultern wallen ließ. Ich habe oft meine Hände darin vergraben und
immer wieder freudig festgestellt, wie schwer es war. Es fühlte sich fein
und weich an, und über dem dunklen, satten Braun lag ein Goldschimmer.
Ich liebte es, während sie im Sessel lehnte, ihr Haar zu lösen und zu
sehen, wie es schwer herabfloß. Ich teilte und flocht es, ich breitete es
um sie und spielte damit. Himmel! Hätte ich doch damals alles gewußt! Ich sagte vorhin, daß mir einiges an ihr nicht gefiel.
Wie ich Ihnen erzählt habe, nahm mich ihre Zutraulichkeit gleich am
ersten Abend für sie ein. Dann aber bemerkte ich, daß sie in allem, was
sie selbst, ihre Mutter, ja überhaupt ihr ganzes bisheriges Leben und
ihre weiteren Pläne betraf, äußerste Zurückhaltung übte. Vielleicht
war ich unvernünftig, vielleicht täuschte ich mich. Sicher hätte ich
die feierliche Verpflichtung, die die vornehme Dame in Schwarz meinem
Vater auferlegt hatte, respektieren sollen. Aber die Neugier ist eine
nimmermüde, bedenkenlose Leidenschaft, und kein Mädchen kann es geduldig
ertragen, von einer Freundin im Ungewissen gelassen zu werden. Wem würde
es schon schaden, wenn sie mir verriete, was mich so brennend
interessierte? Setzte sie kein Vertrauen in mein Urteilsvermögen und
meine Diskretion? Warum glaubte sie mir nicht, wenn ich ihr feierlich
versprach, keinem Menschen ein Wort zu verraten? Wenn sie sich lächelnd, melancholisch und hartnäckig
weigerte, mich auch nur einen Schimmer der Wahrheit erhaschen zu lassen,
glaubte ich eine Kälte zu spüren, die sich mit ihrer Jugend nicht
vertrug. Ich kann nicht behaupten, daß wir uns deswegen zankten.
Sie zankte sich nie mit mir. Es war gewiß sehr unfair und unhöflich von
mir, sie mit Fragen zu bedrängen, aber ich konnte einfach nicht anders.
Ich hätte es lieber bleiben lassen sollen. Was sie mir tatsächlich erzählte, schätzte ich, unvernünftig
wie ich war, gering. Es ließ sich in drei mageren Sätzen zusammenfassen: Sie
hieß Carmilla. Ihre Familie war sehr alt und von Adel. Ihre Heimat lag
irgendwo im Westen. Sie wollte mir weder ihren Familiennamen noch ihr Wappen
verraten, weder den Namen ihres Wohnsitzes noch ihr Heimatland. Denken Sie
bitte nicht, daß ich sie unablässig mit meiner Neugier quälte. Ich
wartete stets auf eine gute Gelegenheit und auch dann stellte ich eher
beiläufige als drängende Fragen. Einige Male ging ich allerdings
geradewegs auf mein Ziel los. Aber welche Taktik ich auch anwandte, Erfolg
hatte ich nie. Weder mit Vorwürfen noch mit Zärtlichkeiten war ihr
beizukommen. Und dennoch - wenn sie mir auswich, tat sie es mit soviel
sanfter Schwermut und leisem Tadel, mit so vielen fast leidenschaftlichen
Vertrauens- und Sympathiebekundungen und mit so vielen Versprechungen, mir
eines Tages alles zu erzählen, daß ich es nicht übers Herz brachte, ihr
lange zu grollen. Oft schlang sie dann ihre schönen Arme um meinen Hals,
zog mich an sich, legte ihre Wange an die meine und flüsterte, die heißen
Lippen an mein Ohr gepreßt: "Liebste, ich weiß, du fühlst dich im
Innersten verletzt. Halte mich nicht für grausam, wenn ich so handle, wie
die Stärken und Schwächen meiner Natur es mir vorschreiben. Wenn dein
sanftes Herz verwundet ist, blutet mein wildes Herz mit ihm. Meine tiefe
Demütigung genießend, lebe ich in deinem warmen Leben, und du wirst in
mein Leben hineinsterben - süß sterben. Ich kann nicht anders: So, wie
ich dir heute nahe bin, wirst du eines Tages anderen nahe sein und die
Wonne dieser Grausamkeit, die doch nichts als Liebe ist, kennenlernen.
Versuche also vorläufig nicht mehr, etwas über mich und die Meinen zu
erfahren, sondern vertraue mir mit der ganzen Kraft deiner Liebe." Nach derart überschwenglichen Worten schlossen sich ihre
bebenden Arme stets noch fester um mich, und ihre warmen Lippen küßten
sanft die meinen. Ihre Empfindungen waren mir ebenso unverständlich wie
ihre Worte. Ich gebe zu, daß ich mich diesen törichten Umarmungen,
zu denen es übrigens nicht so oft kam, gern entzogen hätte; aber mir
fehlte die Kraft dazu. Ihr Flüstern klang mir wie ein Wiegenlied, lähmte
meinen Widerstandswillen und versetzte mich in einen tranceähnlichen
Zustand, aus dem ich erst erwachte, wenn sie ihre Arme sinken ließ. In diesen unheimlichen Augenblicken mochte ich sie nicht.
Ich empfand dann jedes Mal eine seltsame, stürmische Erregung, die zwar
wohltuend war, in die sich aber sogleich ein vages Gefühl der Angst und
des Ekels einschlich. Während solcher Szenen konnte ich keinen klaren
Gedanken fassen, empfand aber eine an Anbetung grenzende Zuneigung und
zugleich eine Art Abscheu. Ich weiß, das klingt paradox, aber anders kann
ich diesen Zustand nicht beschreiben. Noch heute, nach so vielen Jahren,
zittert mir die Hand beim Schreiben, lähmt mich die furchtbare Erinnerung
an bestimmte Vorfälle und Situationen, die ich überstehen mußte, ohne
ihre Bedeutung zu ahnen. Die wichtigsten Ereignisse meiner Geschichte
jedoch sind mir klar und deutlich ins Gedächtnis eingegraben.
Wahrscheinlich gibt es im Leben eines jeden Menschen Augenblicke, in denen
wilde und schreckliche Leidenschaften ihn so überwältigt haben, daß er
sich später jener Momente nur noch vage erinnert. Manchmal nahm meine schöne, seltsame Gefährtin, wie aus
langer Apathie erwachend, meine Hand, hielt sie fest und zärtlich
umschlossen und drückte sie immer wieder. Dann blickte sie mich sanft errötend
mit schmachtenden, brennenden Augen an und atmete so heftig, daß ihre
Brust sich stürmisch hob und senkte. Es war, als säße mir ein von Glut
verzehrter Liebhaber gegenüber. Mir war das peinlich. Ich fühlte mich
gleichzeitig abgestoßen und überwältigt. Dann zog sie mich, mit
triumphierenden Blick, an sich, ließ ihre heißen Lippen über meine
wandern und flüsterte fast schluchzend: "Du gehörst mir, du wirst
mir immer gehören, und du und ich sind eins für ewig." Dann ließ
sie sich in den Sessel zurückfallen und verbarg ihre Augen hinter den
zarten Händen, während ich zitternd und bebend neben ihr saß. "Sind wir miteinander verwandt?" fragte ich sie
oft. "Was meinst du, wenn du so mit mir sprichst? Vielleicht erinnere
ich dich an jemanden, den du liebst? Aber laß' es bitte, ich hasse solche
Szenen. Ich erkenne dich dann nicht wieder - ich kenne mich selbst nicht
mehr, wenn du mich so ansiehst und mir solche Dinge sagst." Meist entlockte ihr meine Heftigkeit einen Seufzer; dann
ließ sie meine Hand los und wandte sich ab. Umsonst versuchte ich, eine
einleuchtende Erklärung für diese ungewöhnlichen Gefühlsausbrüche zu
finden, die sich weder als Affektiertheit noch als Scherz abtun ließen.
Zweifellos brachen in solchen Augenblicken unterdrückte Instinkte und
Sehnsüchte hervor. Litt sie, entgegen der Versicherung, die ihre Mutter
unaufgefordert gegeben hatte, unter vorübergehenden Wahnsinnsanfällen?
Oder handelte es sich gar um eine romantische Verkleidungsaffäre? In
alten Geschichten hatte ich von solchen Dingen gelesen. Hatte vielleicht
ein kindischer Bewunderer, unterstützt von einer alten, schlauen
Abenteurerin, den Weg in unser Haus gefunden, um mir in Frauenkleidern den
Hof zu machen? Aber vieles sprach gegen diese Vermutung, so sehr sie auch
meiner Eitelkeit schmeichelte. Aufmerksamkeiten, wie man sie von galanten Herren erwarten
darf, wurden mir von seiten Carmillas nicht selten zuteil. Solchem Gefühlsüberschwang
folgten stets Tage, an denen nichts Besonderes geschah, und die sie
entweder heiter oder in brütender Schwermut verbrachte. Wenn ich nicht
bemerkt hätte, wie ihre düster glühenden Augen mich verfolgten, hätte
ich manchmal glauben können, ich existierte gar nicht für sie. Abgesehen
von den Momenten geheimnisvoller Erregung benahm sie sich ganz wie ein
normales junges Mädchen, und auch ihre ständige Mattigkeit entsprach
keineswegs dem Bild, das man sich von einem gesunden Mann macht. Sie hatte einige seltsame Angewohnheiten. Jemand, der in
der Stadt wohnt wie Sie, mag darüber freilich anders denken als wir auf
dem Land. Sie kam immer erst sehr spät zu uns herunter, meist nicht vor
ein Uhr mittags, trank eine Tasse Schokolade, aß aber nichts dazu. Dann
machten wir gewöhnlich einen Spaziergang, einen sehr kurzen allerdings,
da sie sofort müde wurde und entweder ins Schloß zurückkehrte oder sich
auf einer Bank im Schatten niederließ. Ihre körperliche Ermattung wirkte
sich aber nicht im geringsten auf ihren Geist aus. Stets unterhielt sie
sich angeregt, stets zeigte sie eine wache Intelligenz. Manchmal spielte sie kurz auf ihre Heimat an oder erwähnte
ein Erlebnis, eine Einzelheit oder eine Kindheitserinnerung, die auf ein
Volk mit seltsamen Gepflogenheiten schließen ließen, mit Sitten, die uns
unbekannt waren. Ich entnahm diesen gelegentlichen Bemerkungen, daß ihr
Heimatland viel ferner sein mußte, als ich anfangs vermutet hatte. Als wir eines Nachmittags unter den Bäumen saßen, kam
ein Leichenzug vorbei. Man trug ein junges, hübsches Mädchen zu Grabe,
dem ich oft begegnet war: die Tochter eines Waldhüters. Der Arme ging
gramgebeugt hinter dem Sarg seines einzigen Kindes. Ihm folgten, ein
Kirchenlied singend, die Bauern. Ehrfurchtsvoll stand ich auf und stimmte in den traurigen
Gesang ein. Da gab mir meine Begleiterin einen recht unsanften Stoß.
Überrascht sah ich sie an. "Hörst du nicht, wie entsetzlich falsch
das klingt?" fragte sie schroff. "Im Gegenteil, ich finde es schön und rührend",
antwortete ich, verärgert über die Störung und peinlich berührt von
dem Gedanken, die Leute im Leichenzug könnten die Szene beobachtet und übelgenommen
haben. Ich sang weiter, wurde aber sofort wieder unterbrochen.
"Du ruinierst mein Trommelfell!" rief Carmilla ärgerlich und
hielt sich mit ihren schlanken Fingern die Ohren zu. "Und weißt du
denn überhaupt, ob du und ich dieselbe Religion haben? Dein Ritual
verletzt mich, und außerdem hasse ich Beerdigungen. So ein Getue! Sterben
muß schließlich jeder, und jeder wird dadurch glücklicher." "Vater ist mit dem Pfarrer zum Friedhof gegangen. Ich
dachte, du weißt, daß sie heute begraben wird." "Wer ist sie? Ich verschwende meine Gedanken nicht an
Bauern. Ich weiß nicht, wer sie ist", erwiderte Carmilla mit
blitzenden Augen. "Das arme Mädchen, das sich vor zwei Wochen
eingebildet hatte, ein Gespenst zu sehen, und das seitdem immer kränker
wurde und gestern starb." "Sprich bloß nicht von Gespenstern, sonst kann ich
heute nacht nicht schlafen!" "Hoffentlich ist keine Seuche im Anzug", fuhr
ich fort. "Alles scheint darauf hinzudeuten. Die junge Frau des
Schweinehirten ist vorige Woche gestorben. Sie behauptete, jemand habe sie
nachts im Bett am Hals gepackt und fast erwürgt. Papa sagt, daß solche
schrecklichen Träume bei bestimmten fiebrigen Erkrankungen auftreten. Sie
war am Tag zuvor völlig gesund." "Nun, ihr Begräbnis ist hoffentlich vorbei, und ihr
Kirchenlied gesungen! Jedenfalls wird man unsere Ohren nicht noch einmal
mit dergleichen Mißtönen und Kauderwelsch martern. Setz' dich zu mir,
ganz nah! Halte meine Hand, ganz fest - fester, fester!" Wir waren ein Stück zurückgegangen, und nun ließ sie
sich auf einer anderen Bank nieder. Ihr Gesicht verwandelte sich in einer
Weise, die mir Schrecken, einen Augenblick lang sogar Entsetzen einjagte.
Es verdüsterte sich und wurde furchtbar fahl. Mit zusammengebissenen Zähnen,
geballten Händen, gerunzelten Brauen und aufeinandergepreßten Lippen
starrte sie zu Boden und zitterte dabei am ganzen Körper, als sei sie von
heftigem Schüttelfrost befallen. Sie schien mit äußerster Anstrengung
einen Anfall zu unterdrücken. Endlich, nach atemlosem Kampf, brach ein
dumpfer, erschütternder Schmerzensschrei aus ihr hervor, und dann
verebbte ihre hysterische Erregung. "Siehst du, das kommt davon, wenn
sie einem mit Kirchenliedern den Hals zuschnüren!" sagte sie schließlich.
"Halt' mich fest, laß' mich nicht los! Es geht schon vorüber."
Es ging vorüber. Und dann, vielleicht um mich diese
deprimierende Szene vergessen zu lassen, wurde sie ungewöhnlich lebhaft
und gesprächig. So machten wir uns auf den Heimweg. Es war das erste Mal, daß ich Zeichen jener Anfälligkeit
an ihr entdeckte, von der ihre Mutter gesprochen hatte. Und es war das
erste Mal, daß ich sie gereizt sah. Beides verflüchtigte sich wie eine Wolke am Sommerhimmel.
Nur noch ein einziges Mal erlebte ich, daß der Zorn für einen Augenblick
mit ihr durchging. Ich will Ihnen davon berichten. Als wir eines Tages im Salon an einem der hohen Fenster
standen, kam von der Zugbrücke her ein Wanderer in den Schloßhof. Ich
kannte ihn gut. Er kam meist zweimal im Jahr zu uns. Er war bucklig und hatte ein hageres, scharfgeschnittenes
Gesicht, wie man es oft bei mißgestalteten Menschen findet. Er trug einen
schwarzen Spitzbart und lachte übers ganze Gesicht, wobei er ein wahres
Raubtiergebiß zur Schau stellte. Sein Gewand war aus lederfarbenem,
schwarzem und scharlachrotem Tuch, darüber trug er unzählige Riemen und
Gurte, an denen die verschiedensten Gegenstände hingen. Auf den Rücken
hatte er sich eine Laterna magica und zwei mir wohlbekannte Kästchen
gepackt: das eine enthielt einen Salamander, das andere eine Alraune. Die
beiden Ungeheuer brachten meinen Vater jedesmal zum Lachen. Sie bestanden
aus getrockneten Teilen von Affen, Papageien, Eichhörnchen, Fischen und
Igeln, die fein säuberlich zusammengenäht waren. Die Wirkung war
erstaunlich. Der Bucklige hatte eine Fiedel, eine Schachtel mit
Taschenspielerutensilien, zwei Florette und Fechtmasken am Gürtel hängen,
um ihn herum baumelten mehrere geheimnisvolle Kästchen, und in der Hand
hielt er einen schwarzen Stab mit Kupferbeschlägen. Ein dürrer,
struppiger Hund folgte ihm auf den Fersen, blieb jedoch an der Zugbrücke
plötzlich stehen, witterte mißtrauisch und begann dann jämmerlich zu
jaulen. Der Gaukler war mitten im Schloßhof stehengeblieben,
hatte seinen komischen Hut gezogen, sich gravitätisch vor uns verneigt
und uns in abscheulichem Französisch und nicht viel besserem Deutsch
seinen wortreichen Gruß entboten. Dann hob er die Fiedel, kratzte eine fröhliche
Weise, sang dazu unbekümmert in der falschen Tonart und führte einen so
drolligen Tanz auf, daß ich trotz des schrecklichen Hundegeheuls lachen
mußte. Den Hut in der Hand und die Fiedel unterm Arm kam er dann
zu uns herüber, pries mit einem einzigen Wortschwall den ganzen Katalog
seiner Künste an und erbot sich, uns alle möglichen Kuriositäten und
Belustigungen vorzuführen. "Wollen die hochwohlgeborenen Damen vielleicht ein
Amulett zum Schutz gegen den Vampyr kaufen, der wie ein Wolf durch diese Wälder
streifen soll?" fragte er und ließ seinen Hut aufs Pflaster fallen.
"Ringsum sterben seine Opfer, ich aber habe ein Mittel, das nie
versagt. Stecken Sie sich ein Amulett ans Kopfkissen und Sie können ihm
ins Gesicht lachen!" Seine Amulette bestanden aus Pergamentstreifen, die mit
kabalistischen Zeichen bedeckt waren. Carmilla kaufte ihm sofort eines ab, und ich folgte ihrem
Beispiel. Er sah zu uns herauf, wir blickten amüsiert zu ihm
hinunter. Ich jedenfalls hatte meinen Spaß an ihm. Während er uns mit
seinen stechenden schwarzen Augen ansah, schien irgend etwas seine Neugier
zu erregen. Im Nu hatte er eine Lederrolle geöffnet, die mit
seltsamen kleinen Stahlinstrumenten verschiedenster Art gefüllt war. "Sehen Sie sich das an, mein Fräulein", sagte
er zu mir. "Ich darf sagen, daß ich mich neben anderen weniger nützlichen
Dingen auch auf die Kunst des Dentisten verstehe. Zum Teufel mit diesem
Hund!" unterbrach er sich plötzlich. "Willst du wohl ruhig
sein, du Kanaille! Er heult so, daß Euer Hochwohlgeboren kein Wort
verstehen können. Ihre erlauchte Freundin, die junge Dame dort, hat äußerst
scharfe Zähne, lang, dünn und spitz wie Pfriemen oder Nadeln." Er
lachte. "Ich hab' scharfe Augen und kann's von hier aus deutlich
erkennen. Sicher tut sie sich oft weh damit. Ich kann ihr helfen. Hier
habe ich Feile, Meißel und Zange. Wenn die Dame gestattet, werde ich ihre
Zähne hübsch zurechtfeilen. Eine junge schöne Dame darf doch keine
Fischzähne haben, nicht wahr? O je! Ist mir die Dame böse? War ich zu
aufdringlich? Habe ich sie gekränkt?" Die junge Dame machte tatsächlich ein böses Gesicht, als
sie rasch zurücktrat. "Wie kann dieser Scharlatan es wagen, uns so zu
beleidigen? Wo ist dein Vater? Ich werde ihn bitten, den Kerl zur Rede zu
stellen. Mein Vater hätte diesen erbärmlichen Schuft an den
Pumpenschwengel binden, auspeitschen und ihm unser Wappen bis auf die
Knochen einbrennen lassen!" Sie entfernte sich vom Fenster und setzte sich. Als ihr
der Missetäter aus den Augen war, legte sich ihr Zorn ebenso rasch wie er
aufgeflammt war. Allmählich fand sie ihre Haltung wieder und schien den
kleinen Buckligen und seine Narretei vergessen zu haben. An diesem Abend war mein Vater in gedrückter Stimmung.
Schon beim Eintreten erzählte er uns, es habe sich wieder ein ähnlicher
Fall ereignet wie die beiden, die vor kurzem tödlich ausgegangen waren.
Die Schwester eines in seinen Diensten stehenden jungen Bauern, die nur
eine Meile von uns entfernt wohnte, war sehr krank. Ihrer Schilderung nach
war sie auf fast die gleiche Weise wie die anderen angefallen worden und
nun siechte sie unaufhaltsam dahin. "Alle diese Fälle", erklärte
mein Vater, "sind zweifellos auf natürliche Ursachen zurückzuführen.
Diese bedauernswerten Menschen stecken einander mit ihrem Aberglauben an
und bilden sich dann ein, von den gleichen schrecklichen Erscheinungen
heimgesucht zu werden wie ihre Nachbarn." "Aber das ist es ja gerade, was einem so entsetzliche
Angst einjagt", sagte Carmilla. "Wieso?" fragte mein Vater. "Ich fürchte mich davor, mir eines Tages auch solche
Dinge einzubilden. Ich glaube, das wäre ebenso furchtbar, wie wenn sie
tatsächlich geschähen." "Wir sind alle in Gottes Hand; nichts geschieht gegen
seinen Willen, und für die, die Ihn lieben, wird alles zu einem guten
Ende kommen. Er ist unser getreuer Schöpfer. Er hat uns alle gemacht und
wird uns behüten." "Schöpfer? Natur!" hielt die junge Dame meinem
frommen Vater entgegen. "Und auch die Krankheit, die hier auftritt,
ist eine natürliche Angelegenheit. Natur! Alles, was ist, kommt aus ihr -
oder etwa nicht? Gehorchen nicht alle Dinge im Himmel, auf Erden und unter
der Erde ihren Gesetzen? Ich bin überzeugt davon." Nach längerem Schweigen sagte mein Vater: "Der Arzt
hat sich für heute angemeldet. Ich will wissen, was er von der Sache hält
und was er uns zu tun rät." "Ärzte haben mir nie helfen können", bemerkte
Carmilla. "Dann bist du also krank gewesen?" fragte ich. "Kränker als du jemals warst", antwortete sie. "Ist das schon lange her?" "Ja, sehr lange. Ich litt an genau der gleichen
Krankheit, aber ich kann mich nur noch an meine Schmerzen und Schwächeanfälle
erinnern, und die waren nicht so schlimm wie bei anderen
Erkrankungen." "Du mußt damals sehr jung gewesen sein." "Das kann man wohl sagen. Aber sprechen wir nicht
mehr davon. Du wirst doch einer Freundin nicht wehtun wollen?" Sie
sah mir schmachtend in die Augen, legte mir zärtlich den Arm um die
Taille und führte mich aus dem Zimmer. Mein Vater, der sich ans Fenster
gesetzt hatte und mit einigen Schriftstücken beschäftigt war, blieb zurück.
"Warum macht dein Papa uns so gern Angst?"
fragte Carmilla seufzend und leicht erschaudernd. "Aber Carmilla, das tut er doch gar nicht. Nichts läge
ihm ferner." "Fürchtest du dich, Liebste?" "Ich würde mich sehr fürchten, wenn ich mich in der
gleichen Gefahr wüßte wie diese armen Menschen." "Fürchtest du dich vor dem Sterben?" "Ja. Davor fürchtet sich doch jeder." "Aber zu sterben wie zwei Liebende - miteinander
sterben, um danach miteinander leben zu dürfen! Die Mädchen verbringen
ihr Leben in dieser Welt wie Raupen, und erst wenn der Sommer kommt,
werden sie Schmetterlinge. Vorher aber sind sie wie Maden und Larven,
nicht wahr, mit den gleichen Gewohnheiten und Bedürfnissen und von der
gleichen Beschaffenheit wie diese. Das schreibt Monsieur Buffon in seinem
großen Buch - es steht drüben im Zimmer." Später kam der Arzt und hatte eine vertrauliche
Unterredung mit Papa. Er war ein sachkundiger Mann in den Sechzigern. Er
puderte sich, und sein bartloses Gesicht war glatt wie ein Kürbis. Als er
zusammen mit Papa aus dem Zimmer trat, hörte ich diesen lachend sagen: "Also wirklich, von einem so klugen Mann wie Sie es
sind hätte ich das nicht erwartet. Was halten sie denn von geflügelten
Pferden und Drachen?" Der Arzt wiegte lächelnd den Kopf. "Trotz allem", sagte er, "Leben und Tod
sind geheimnisvolle Bereiche, und wir wissen wenig über die darin
wirksamen Kräfte." Dann gingen die beiden weiter, und ich konnte nichts mehr
von ihrer Unterhaltung hören. Ich wußte damals nicht, wovon der Arzt
gesprochen hatte, heute jedoch glaube ich es erraten zu können. |