Carmilla III: Wir tauschen Erinnerungen aus

Wir sahen der Dame und ihrem Gefolge nach, bis sie im nebligen Wald verschwunden waren, und lauschten dem Klang der Hufe und Räder, bis er sich in der Nacht verlor.

Der einzige Beweis dafür, daß wir dieses Abenteuer nicht nur geträumt hatten, war die junge Dame, die in diesem Moment die Augen aufschlug. Ihr Gesicht war mir abgewandt, aber ich sah, wie sie den Kopf hob, offenbar um sich zu orientieren, und hörte sie mit sanfter, klagender Stimme fragen: "Wo ist Mama?"

Unsere treue Madame Perrodon beschwichtigte sie in liebevollem Ton.

Dann hörte ich das Mädchen fragen:

"Wo bin ich? Warum liege ich hier?" Und dann: "Wo ist die Kutsche? Und wo ist Matska?"

Madame beantwortete ihre Fragen, soweit sie ihr verständlich waren. Allmählich erinnerte sich die junge Dame des unglückseligen Vorfalls und zeigte sich erfreut darüber, daß weder die Insassen der Kutsche noch die Bediensteten verletzt waren. Als sie erfuhr, daß die Mutter sie bis zu ihrer Rückkehr in drei Monaten hier zurückgelassen hatte, begann sie zu weinen.

Ich wollte zu ihr gehen, um sie gemeinsam mit Madame Perrodon zu trösten, doch Mademoiselle De Lafontaine hielt mich zurück.

"Geh´ nicht hin! Sie darf jetzt nicht zuviel sprechen. Die geringste Erregung könnte ihr schaden." "Sobald sie ruhig im Bett liegt", dachte ich bei mir, "gehe ich hinauf und besuche sie."

Inzwischen hatte mein Vater einen Diener beauftragt, zum Arzt, der etwa sechs Meilen entfernt wohnte, zu reiten. Im Schloß wurde bereits ein Schlafzimmer für die junge Dame hergerichtet. Nun erhob sich die Fremde und ging, auf Madames Arm gestützt, langsam über die Zugbrücke und durchs Schloßtor. In der Halle standen Bedienstete bereit, um sie zu ihrem Zimmer zu begleiten.

Der Raum, den wir gewöhnlich als Salon benutzten, ist lang und hat vier Fenster, die auf den Burggraben, die Zugbrücke und die eingangs beschriebene Waldlichtung hinausgehen. Er ist mit alten, geschnitzten Eichenmöbeln - darunter einige schwere Schränke - ausgestattet; die Stühle sind mit rotem Utrechter Samt gepolstert, an den Wänden hängen Gobelins in schweren Goldrahmen, auf denen lebensgroße Figuren in wunderlichen, altmodischen Gewändern bei der Jagd, der Falknerei und verschiedenen Festlichkeiten zu sehen sind. Trotzdem ist dieses Zimmer nicht so prächtig, daß man sich darin nicht behaglich gefühlt hätte. Wir fanden uns dort gewöhnlich zum Tee ein. Mein Vater war nämlich patriotisch genug, um darauf zu bestehen, daß neben Kaffee und Schokolade auch das englische Nationalgetränk regelmäßig serviert wurde.

In jener Nacht also saßen wir dort zusammen und unterhielten uns über das soeben Erlebte. Auch Madame Perrodon und Mademoiselle De Lafontaine waren anwesend.

Die junge Fremde war sofort nach dem Zubettgehen in tiefen Schlaf gesunken, und die beiden Damen hatten eine Dienerin beauftragt, bei ihr zu wachen.

"Wie gefällt Ihnen unser Gast?" fragte ich Madame, als sie ins Zimmer trat. "Erzählen Sie mir alles, was Sie von ihr wissen!"

"Sie gefällt mit außergewöhnlich gut. Ich glaube, ein hübscheres Geschöpf habe ich noch nie gesehen. Sie ist ungefähr in deinem Alter, und sie ist sehr lieb und nett."

"Sie ist ausgesprochen schön", warf Mademoiselle ein, die einen Blick ins Zimmer der Fremden geworfen hatte.

"Und sie hat eine so sanfte Stimme!" setzte Madame Perrodon hinzu.

"Haben Sie, als die Kutsche wieder aufgerichtet war, eine Frau bemerkt, die nicht ausgestiegen war und nur aus dem Fenster schaute?" fragte Mademoiselle.

Wir hatten sie nicht gesehen.

Nun berichtete sie von einer unheimlichen schwarzen Gestalt, die eine Art farbigen Turban getragen, die ganze Zeit aus dem Wagen gestarrt und den Damen höhnisch zugenickt und zugegrinst habe - mit glitzerndem Blick und wie vor Wut gefletschten Zähnen.

"Ist Ihnen aufgefallen, was für eine wüste Horde die Bediensteten waren?" fragte Madame.

"Ja", erwiderte mein Vater, der gerade eingetreten war, "häßlichere Galgenvögel sind mir noch nie über den Weg gelaufen. Ich hoffe nur, daß sie die arme Dame nicht im Wald ausrauben werden. Aber geschickt sind diese Schurken! Im Handumdrehen war alles wieder in Ordnung."

"Ich glaube fast, sie waren von der langen Reise erschöpft", sagte Madame. "Sie machten zwar einen verruchten Eindruck, aber ihre Gesichter waren auffallend hager und wirkten düster und verdrossen. Ich gebe zu, daß mich die Neugier quält. Aber sicher wird uns die junge Dame morgen, wenn sie sich einigermaßen erholt hat, alles erzählen."

"Das glaube ich nicht", sagte mein Vater, lächelte geheimnisvoll und nickte vor sich hin, als wüßte er etwas, das er uns nicht sagen wollte.

Nun brannte ich noch mehr darauf zu erfahren, wovon er und die Dame in Schwarz während der kurzen, ernsten Unterhaltung vor ihrer Abfahrt gesprochen hatten.

Kaum war ich mit ihm allein, da bestürmte ich ihn auch schon mit Fragen. Er ließ sich nicht lange bitten.

"Ich sehe keinen besonderen Grund, warum ich es dir verheimlichen sollte. Sie äußerte Bedenken, uns mit der Pflege ihrer Tochter zu belasten, da diese von zarter Gesundheit und sehr nervös sei. Sie fügte von sich aus hinzu, daß das Mädchen allerdings weder an plötzlichen Anfällen noch an Wahnvorstellungen leide, also völlig normal sei."

"Höchst seltsam, so etwas zu sagen", warf ich ein. "Das war doch ganz unnötig."

"Nun, sie hat es jedenfalls gesagt", erwiderte er lachend, "und da du alles, was gesprochen wurde, wissen wolltest - und es war wenig genug -, habe ich auch das erwähnt. Außerdem sagte sie folgendes: 'Ich befinde mich auf einer langen, lebenswichtigen Reise' - sie betonte dieses Wort -, 'die eilig und geheim ist. In drei Monaten werde ich meine Tochter abholen, inzwischen aber wird sie mit keinem Wort erwähnen, wer wir sind, woher wir kommen und wohin wir reisen.' Mehr sagte sie nicht. Sie sprach übrigens akzentfreies Französisch. Nach dem Wort 'geheim' zögerte sie ein paar Sekunden und sah mich unbewegt an. Ich glaube, es ist ihr sehr ernst damit. Du hast ja gesehen, wie rasch sie davonfuhr. Ich hoffe nur, daß ich keine Dummheit gemacht habe, als ich die Verantwortung für die junge Dame übernahm."

Ich für meinen Teil war begeistert. Begierig, sie zu sehen und zu sprechen, wartete ich sehnsüchtig darauf, die Erlaubnis des Arztes zu erhalten. Wer in der Stadt lebt, kann sich nicht vorstellen, welch wichtiges Ereignis die Begegnung mit neuen Menschen in einer so einsamen Gegend wie der unseren ist.

Der Arzt traf erst kurz vor ein Uhr nachts ein, aber zu Bett zu gehen und zu schlafen wäre mir ebenso unmöglich gewesen, wie zu Fuß die Kutsche einzuholen, in der die fürstliche Dame in schwarzem Samt davongefahren war.

Als der Arzt zu uns herunterkam, brachte er gute Nachrichten. Die Patientin hatte sich im Bett aufgesetzt, ihr Puls war regelmäßig, und sie fühlte sich offenbar wieder wohl. Sie war nicht verletzt und hatte den leichten Nervenschock gut überstanden. Falls ich sie besuchen wolle, habe er nichts dagegen einzuwenden. Und so ließ ich bei ihr anfragen, ob ich auf ein paar Minuten zu ihr kommen dürfe.

Das Dienstmädchen richtete mir kurz darauf aus, sie wünsche sich nichts sehnlicher als meinen Besuch.

Sie können sich vorstellen, wie rasch ich dieser Aufforderung nachkam!

Unser Gast lag in einem der prächtigsten Zimmer des Schlosses. Es war vielleicht etwas zu pompös. Dem Bett gegenüber hing ein düsterer Gobelin, der Kleopatra mit den Schlangen an der Brust zeigte, und auch die anderen Wände waren mit leicht verblaßten Darstellungen ernster klassischer Motive bedeckt. Aber das vergoldete Schnitzwerk und die satten Farben der übrigen Ausstattung machten den bedrückenden Eindruck der alten Gobelins mehr als wett.

Am Bett brannten Kerzen. Sie hatte sich aufgerichtet, den schönen, schlanken Körper umhüllte der weiche, seidene, blumenbestickte und mit gestepptem Seidenfutter ausgeschlagene Morgenrock, den die Mutter ihr, als sie draußen auf der Erde lag, über die Füße geworfen hatte. Was war es wohl, das mich, als ich ans Bett trat und gerade ein paar Begrüßungsworte sagen wollte, augenblicklich verstummen und ein paar Schritte zurückweichen ließ? Ich will es Ihnen sagen.

Ich blickte in jenes Gesicht, das mir einst, in der Kindheit, nachts erschienen war, das sich meinem Gedächtnis eingeprägt und über das ich viele Jahre lang voller Entsetzen nachgegrübelt hatte, ohne daß die anderen es ahnten.

Es war hübsch, sogar schön, und es hatte einen Augenblick lang den gleichen melancholischen Ausdruck wie damals.

Doch im nächsten Moment wich dieser Ausdruck einem eigentümlich starren Lächeln des Wiedererkennens.

Eine volle Minute lang herrschte Schweigen, dann begann sie zu sprechen; ich war nicht fähig dazu.

"Wie wunderbar!" rief sie. "Vor zwölf Jahren ist mir ihr Gesicht im Traume erschienen, und seitdem hat es mich ständig verfolgt."

"Es ist wirklich wunderbar", erwiderte ich, mühsam den Schrecken überwindend, der mich sprachlos gemacht hatte. "Vor zwölf Jahren habe auch ich Sie gesehen, im Traume oder im Wachen. Ich konnte Ihr Gesicht nicht mehr vergessen. Stets habe ich es seitdem vor Augen gehabt."

Ihr Lächeln war sanft geworden. Was immer mich daran seltsam berührt hatte, war verschwunden. Jetzt wirkte es, im Verein mit ihren kleinen Grübchen, aufreizend und klug zugleich.

Ich fühlte mich beruhigt, besann mich meiner Gastgeberrolle, sagte ihr, wie sehr wir alle uns über ihren unerwarteten Besuch freuten und daß ich darüber besonders glücklich sei. Während ich sprach, faßte ich nach ihrer Hand. Ich war ein wenig scheu, wie alle einsamen Menschen, diese Begegnung aber machte mich beredsam, ja kühn. Die Fremde drückte meine Hand, bedeckte sie mit der ihren, und ihre Augen strahlten, als sie mir einen Blick zuwarf, wieder lächelte und errötete.

Sie dankte liebenswürdig für meinen Willkommensgruß. Noch immer staunend setzte ich mich zu ihr.

"Ich muß Ihnen von meiner Vision erzählen", begann sie. "Es ist wirklich sehr seltsam, daß wir beide so lebhaft voneinander geträumt haben und jede die andere so gesehen hat, wie sie heute ist, obwohl wir damals noch Kinder waren. Ich war ungefähr sechs Jahre alt und erwachte in jener Nacht aus einem wirren, qualvollen Traum, fand mich in einem Raum, der nicht meinem Kinderzimmer glich, sondern mit rauhem, dunklem Holz verkleidet und mit Schränken, Betten, Stühlen und Bänken ausgestattet war. Die Betten schienen alle leer zu sein, so daß ich glaubte, außer mir sei niemand im Zimmer. Nachdem ich mich eine Zeitlang umgesehen und vor allem einen zweiarmigen eisernen Leuchter, den ich jederzeit wiedererkennen würde, bewundert hatte, kroch ich unter eins der Betten, um von dort aus zum Fenster zu gelangen. Als ich gerade wieder auftauchte, hörte ich jemanden weinen, und als ich, noch am Boden kniend, aufsah, erblickte ich Sie, wie Sie leiben und leben! Ihr Anblick entzückte mich. Ich kletterte aufs Bett, schlang die Arme um Sie, und soviel ich weiß, schliefen wir gemeinsam ein. Ich wurde von einem Schrei geweckt. Sie saßen im Bett und schrien. Von Furcht gepackt, ließ ich mich auf den Boden gleiten und verlor anscheinend für einen Augenblick das Bewußtsein. Als ich zu mir kam, war ich wieder zu Hause im Kinderzimmer. Ihr Gesicht habe ich nie wieder vergessen können. Von einer bloßen Ähnlichkeit würde ich mich nicht narren lassen. Sie sind die Dame, die ich in jener Nacht sah."

Jetzt war es an mir, von der Erscheinung zu berichten, und ich tat es zum unverhüllten Staunen meiner neuen Bekannten.

"Ich weiß nicht, wer von uns beiden sich am meisten vor der anderen fürchten sollte", sagte sie lächelnd. "Wären Sie weniger hübsch, hätte ich sicher große Angst vor Ihnen, aber wenn ich Sie so ansehe und bedenke, wie jung wir beide sind, ist es mir, als kenne ich Sie seit zwölf Jahren und hätte bereits ein Recht auf Ihre Freundschaft. Jedenfalls scheint es, als sei es uns beiden von Kindheit an bestimmt gewesen, Freundinnen zu werden. Ich wüßte gern, ob Sie sich ebenso seltsam zu mir hingezogen fühlen, wie ich mich zu Ihnen. Ich habe niemals eine Freundin gehabt - ob ich wohl jetzt eine finden werde?" Sie seufzte und sah mich mit ihren schönen, dunklen Augen leidenschaftlich an.

Um die Wahrheit zu sagen: Ich war mir über meine Empfindungen und Gefühle für die schöne Fremde nicht im klaren. Ich fühlte mich zwar 'zu ihr hingezogen', wie sie es nannte, gleichzeitig aber war ich irgendwie abgestoßen. In diesem inneren Zwiespalt war jedoch die Anziehungskraft, die sie auf mich ausübte, mächtiger. Die Fremde interessierte mich, und es gelang ihr, mich zu erobern. Sie war so schön und hatte ein unbeschreiblich gewinnendes Wesen.

Als ich Zeichen der Ermattung und Erschöpfung an ihr wahrnahm, beeilte ich mich, ihr Gutenacht zu sagen.

"Der Arzt möchte", fügte ich hinzu, "daß heute nacht jemand bei Ihnen wacht. Eines unserer Mädchen hat sich bereit erklärt, eine tüchtige, ruhige Person, wie Sie sehen werden."

"Wie gütig von Ihnen, aber ich könnte nicht schlafen, wenn ein Dienstbote anwesend wäre; ich habe es nie gekonnt. Ich werde keine Hilfe brauchen. Und noch etwas - soll ich Ihnen diese Schwäche gestehen? -, ich lebe in ständiger Furcht vor Einbrechern. Unser Haus ist einmal ausgeraubt worden, und seitdem schließe ich immer meine Tür ab. Ich habe mich daran gewöhnt - und Sie machen einen so verständnisvollen Eindruck, daß Sie es mir sicher nicht verübeln werden. Wie ich sehe, steckt der Schlüssel im Türschloß."

Plötzlich, einen Augenblick lang, schlang sie die Arme um mich, drückte mich an sich und flüsterte mir zu: "Gute Nacht, Liebste, es fällt mir schwer, Sie gehen zu lassen, aber nun Gute Nacht! Morgen, wenn auch nicht zu früh, sehen wir uns wieder."

Mit einem Seufzer sank sie in die Kissen, ihre schönen Augen blickten mir zärtlich und schwermütig nach, und noch einmal murmelte sie: "Gute Nacht, liebste Freundin."

Junge Menschen verschenken ihre Sympathie, und sogar ihre Liebe, spontan. Ich fühlte mich geschmeichelt von der unverhüllten, wenn auch noch gänzlich unverdienten Zuneigung, die sie mir entgegenbrachte. Es gefiel mir, daß sie mir sofort Vertrauen schenkte. Sie schien entschlossen, mich zur Freundin zu gewinnen.

Am nächsten Tag sahen wir uns wieder. Ich war von meiner neuen Gefährtin entzückt - das heißt, ich war es in vieler Hinsicht.

Das Tageslicht beeinträchtigte ihr Aussehen nicht im mindesten; sie war zweifelsohne das schönste Geschöpf, das mir jemals begegnet war, und die unangenehme Erinnerung an meinen Kindheitstraum, die mich bei der ersten Wiederbegegnung beunruhigt hatte, quälte mich nicht länger.

Sie gestand mir, sie habe bei meinem ersten Eintreten einen ähnlichen Schrecken verspürt und die gleiche leichte Abneigung empfunden, die sich auch in meine Bewunderung für sie gemischt hatte. Jetzt lachten wir beide über unseren anfänglichen Schauder.  

zurück    Anfang    weiter