Tanya Carpenter

1

Tochter der Dunkelheit

(Teil 1 der Serie 'Ruf des Blutes')

Autorin: Tanya Carpenter

Copyright 2007 by Sieben-Verlag Ltd.

Erstausgabe 2007

Verlag: Sieben-Verlag Ltd., 64757 Mossautal

ISBN 978-3-940235-12-1

Broschiert, 356 Seiten

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Als Melissa Ravenwood dem Geheimbund der Ashera beitritt, hofft sie, mit ihrem bisherigen Leben auch all die Lügen und Intrigen hinter sich zu lassen, die ihre Welt in einem Sekundenbruchteil zum Einsturz gebracht haben. Doch stattdessen wird sie zum Spielball ebenso sinnlicher wie gefährlicher Dämonen: Vampire – wie ihr rätselhafter Geliebter Armand, der Schuld an ihrem Schicksal trägt. Und auch Franklin Smithers, der Leiter des Ashera-Ordens, scheint von düsteren Geheimnissen umgeben, deren Ursprung in Melissas Vergangenheit liegt. Faszinierender Auftakt zu einer neuen Serie aus der Welt der Untoten.

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Leseprobe:

Wer mit dem Feuer spielt

Ich öffnete die Fenster, um die kühle Nachtluft hereinzulassen, damit sie nach der Traumreise meinen Geist klären konnte. Sie strich angenehm über meine vom Duschen noch feuchte Haut. Draußen leuchtete ein fast voller Mond vom klaren Himmel. Ich zündete die beiden großen Kerzen an, knipste das elektrische Licht aus. Dann stellte ich mich vor den Spiegel und begann, meine nassen Haare zu entknoten. Wieder hörte ich Armand nicht kommen. Aber als seine Stimme erklang, durchfuhr es mich wie ein elektrischer Schlag.
„Es war, als hätt’ der Himmel die Erde still geküsst. Dass sie im Blütenschimmer von ihm nun träumen müsst.“ Er kam langsam näher, ich sah seinen Schatten bereits im Spiegel. „Die Luft ging durch die Felder, die Ähren wogten sacht. Es rauschten leis’ die Wälder, so sternklar war die Nacht.“ Er stand jetzt hinter mir und hielt mir eine rote Rose vors Gesicht. Zögernd nahm ich sie, woraufhin er seine Hände sanft auf meine Schultern legte und mir im Spiegel tief in die Augen schaute. „Und meine Seele spannte weit ihre Flügel aus. Flog durch die stillen Lande, als flöge sie nach Haus.“
Er lächelte mich warm und liebevoll an.
„Das ist wunderschön. Haben Sie das geschrieben?“
„Zuviel der Ehre. Nein, ich möchte mich nicht mit fremden Federn schmücken. Joseph Freiherr von Eichendorff hat dieses Gedicht geschrieben. Das war, glaube ich, 1837. Ein bemerkenswerter Mann. Er hat den Mond sehr geliebt.“
„Das kann ich gut verstehen.“
„Dann lieben Sie den Mond auch?“
„Ja, sehr. Es beruhigt mich, zu sehen, dass Luna über mich wacht.“
„Ah, Luna. La grande mère. Ich denke, Eichendorff hat den Mond mit anderen Augen gesehen. Aber nicht minder verehrt.“ 
„Ich hätte Ihnen gar nicht zugetraut, dass Sie so romantisch sind“, gestand ich und atmete den Duft der Rose tief ein. Ein leises Lachen war die Antwort. Noch immer sahen wir im Spiegel einander an. 
„Ich bin Franzose, chérie. Franzosen sind immer romantisch.“ Er drehte mich zu sich herum, spielte mit einer feuchten Haarsträhne, fuhr die Linie meiner Wangenknochen nach, bis zu meinem Kinn. „Ganz besonders, wenn wir uns in Gegenwart einer so bezaubernden Frau befinden. Sie sind so schön, dass es fast schon weh tut.“ 
Armand streichelte meine Wange, rieb mit dem Daumen sacht über meine Lippen, und ich schloss die Augen. Vampir hin oder her, ich fühlte mich wohl in seiner Nähe. Meine Finger glitten am Stiel der Rose entlang. Ganz plötzlich stach ich mich an einem der Dornen. Erschrocken zog ich meine Hand zurück, sah zu, wie ein einzelner Blutstropfen aus der winzigen Wunde quoll. Ich wehrte mich nicht, als Armand meine Hand ergriff, sie an seine Lippen führte und den Tropfen aufsaugte. Die Spannung zwischen uns war so stark, dass ich kaum atmen konnte.
„Jeden Nachklang fühlt mein Herz, froh und trüber Zeit. Wandle zwischen Freud und Schmerz, in der Einsamkeit.“ Er hielt mich gefangen mit seinem Blick.
„Ist das auch von Eichendorff?“
„Von Goethe. Und Sie, mon amour, erwecken solch einen tiefen Nachklang in meinem Herzen, dass der Schmerz unerträglich ist. Ich fühle mich einsamer denn je, seit ich Sie gesehen habe.“
Benommen blinzelte ich ihn an. War es seine Stimme, waren es seine Augen, war es der sanfte Schein des Kerzenlichts? Oder alles zusammen? Ich hatte das Gefühl, nicht mehr Herr meiner Sinne zu sein. 
„Ich verstehe nicht ganz. Wie meinen Sie das?“
Er richtete sich ruckartig auf und machte eine wegwischende Handbewegung. Die sinnliche Spannung zerplatzte wie eine Seifenblase.
„Ah, oubliez! Vergessen Sie es! In solchen Nächten neige ich ein wenig zu Melancholie. Erinnerungen an alte Zeiten. Bitte verzeihen Sie, dass ich Sie damit belaste.“
Ich hätte gern noch weiter nachgefragt, wagte es aber nicht. Stattdessen fragte ich: „Schreiben Sie selbst auch Gedichte?“
„Parfois. Manchmal.“
Er sah mich an, geduldig und aufmerksam. Was hätte ich in diesem Moment für seine Gedanken gegeben! „Würden Sie mir etwas über sich erzählen?“, wagte ich mich weiter vor. 
„Sicher.“ 
Ich spielte nervös mit der Rose in meiner Hand. Die Göttin hatte gesagt, er würde mir helfen. Doch auf was für ein Geschöpf ließ ich mich ein, wenn ich ihn um Hilfe bat? 
„Wie ist das, ein Vampir zu sein? Ich meine, diese ganzen Schauermärchen, das hat nur sehr wenig mit Ihnen zu tun?“ Er sah mich fragend an. Offenbar wollte er genauer wissen, worauf ich hinauswollte. Ich seufzte hilflos. „Ich meine solche Sachen wie Verwesungsgeruch und dass Vampire keine Spiegelbilder haben. Das stimmt ja alles nicht. Ich kann Sie im Spiegel so deutlich sehen wie mich selbst. Und nach Verwesung riechen Sie auch nicht.“
Er lachte, aber nicht spöttisch, sondern amüsiert. „Und jetzt fragen Sie sich, wie es mit all den anderen Ammenmärchen aussieht, ja?“ Ich nickte. „Alors, ich verwandle mich nicht in eine Fledermaus und umkreise dreimal den Kirchturm.“
Das wäre mir dann doch auch ein bisschen zu weit hergeholt erschienen.
„Wir Vampire fliehen auch nicht vor Knoblauch. Und man kann uns nicht mit Kruzifixen vertreiben. Im Gegenteil, es zieht uns sogar oft in die christlichen Kirchen. Wir lieben die Atmosphäre dort. Auch Weihwasser kann uns nichts anhaben oder der viel besagte Pflock durchs Herz. Doch durch das Sonnenlicht können wir sterben. Oder durch ein großes Feuer. Aber es gibt kaum mehr, was uns wirklich schaden kann.“
Ich hob mein Gesicht zu ihm und blickte in glitzerndes Grau, kaum eine Handbreit entfernt. 
„Aber Sie fragen sich noch etwas anderes, Melissa, nicht wahr? Sie fragen sich, ob ich ein Wesen bin, dem Sie vertrauen können. Ob ich tatsächlich töte, und wie oft. Ob ich dabei gnädig oder mitleidlos bin. Ein Erlöser für verlorene Seelen oder ein verheerender, grausamer Dämon. Aber spielt das eine Rolle, ma chère, wenn das Ergebnis doch immer dasselbe ist?“
Seine Stimme war Rauch. Er machte mich benommen.
„Vertrauen die Ihnen denn? Diejenigen, die Sie beißen?“ Es war nur ein klägliches Flüstern. Er machte mir Angst. 
„Naturellement“, hauchte er, und sein Atem streichelte meine Wange. Ich spürte, wie sich meine Härchen im Nacken aufstellten – durchaus nicht unangenehm. Mir wurde schwindlig. „Sie alle vertrauen mir, wenn der Todesbiss kommt. Schwelgen in seliger Lust, während ich von ihnen trinke. Macht mich das in Ihren Augen zu einem Monster?“
„Es macht Sie zu einem Mörder.“
Sein Ausdruck wurde eisig. 
„Je ne suis pas un assasin. Das bin ich nicht. Ich bin ein Raubtier, kein Mörder. Jeder Löwe tötet das Zebra, damit er nicht verhungert.“
„Das ist etwas anderes.“
„Nein, ist es nicht. Auch ich töte nur, um zu überleben.“
„Aber Sie töten Menschen.“
„Ah, voilà pourquoi. Darum geht es.“ Zynisch zog er eine Augenbraue hoch. „Ich dachte, der Glaube der Großen Mutter lehrt, dass alle Geschöpfe gleich sind. Und jetzt sagen Sie mir, dass der Mensch etwas Besseres ist?“
Er wartete auf eine Antwort. Lauerte darauf, dass ich einen Fehler machen würde, wenn ich ihm widersprach. „Sterben müssen sie alle irgendwann, mon amour. Der Tod kennt auch keine Gnade. Warum also sollte ich gnädig sein?“
Ich wandte mich ab, und Armand hielt mich nicht fest. Es war ein Fehler gewesen, ein solches Gespräch zu beginnen. Aber jetzt war es zu spät. 
„Es ist trotzdem nicht dasselbe. Sie suchen sich Ihre Opfer gezielt aus, nicht willkürlich, wie der Tod selbst es tut.“
„Das ist nicht richtig. Ich suche nicht gezielt nach diesem oder jenem. Ich gehe auf Jagd. Und jeder, der mir dabei begegnet, kann mein Opfer werden. Oder eben auch nicht, wenn es nicht reizvoll genug ist.“
„Reizvoll?“
Er kam mir wieder nah. Die Augen schmale Schlitze, in denen es gefährlich aufblitzte. Ein plötzlicher Windstoß löschte die Kerzen. In der Dunkelheit leuchtete sein Gesicht unheimlich, umrahmt von der pechschwarzen Seide seines Haares. Er erschien mir wie ein Teufel – aber einer, dem ich nicht widerstehen konnte, so groß meine Furcht auch war. 
„Ah oui, ma chère“, flüsterte er so leise, dass seine Stimme mehr ein Schauer durch meinen Körper war, als dass ich sie wirklich hörte. „Es muss doch ein Reiz dabei sein, finden Sie nicht? Sonst wäre es doch nicht interessant.“
Seine Augen glühten, während er mich fixierte. Ich wich einen Schritt zurück. „Und was genau finden Sie interessant?“
Er schmunzelte. Sein Gesichtsausdruck erinnerte an einen schmeichelnden Dämon.
„Das kommt ganz darauf an, worauf ich Hunger habe.“ Noch einmal musste ich schlucken, aber meine Kehle war so trocken, dass es mir schwer fiel. Unbeirrt fuhr er fort, während er sich mir langsam weiter näherte. Seine Stimme war kaum hörbar, doch ich verstand jedes Wort überdeutlich. „Es kann eine abgrundtief böse Seele sein. Ein Dieb, ein Dealer, ein Mörder, ganz egal. Jemand wirklich Schlechtes, der charakterliche Abschaum der Gesellschaft sozusagen.“ Er neigte den Kopf zur Seite, während er fortfuhr. Sein Gesicht bekam einen Ausdruck vagen Staunens, so als könne er selbst kaum glauben, was er sagte. „Oder aber die reine Unschuld. Ein Herz voller Liebe und Güte wie das einer Nonne oder einer Mutter. Oder ein von Gram und Trauer geplagter Geist. Ein Bettler, ein Obdachloser oder ein einsames Kind.“ Er machte eine Geste des Bedauerns und schaute so unschuldig wie die Gesichter der Heiligen in einer katholischen Kirche. „Wie gesagt, es kommt ganz darauf an.“
Er stand jetzt direkt vor mir, sein geruchloser Atem streifte mein Gesicht. Ich bebte am ganzen Körper.
„Bitte töten Sie mich nicht!“, brachte ich mühsam hervor. Ich konnte seinem Blick nicht länger standhalten. Ich zweifelte keine Sekunde daran, dass er es zumindest in Erwägung zog. Und ich wollte ihn dabei nicht ansehen müssen. Aber seine Haltung änderte sich. Er drehte kurz den Kopf in Richtung Spiegel, und die beiden Kerzen flammten auf; tauchten den Raum in ein warmes, sanftes Licht. Er war wieder der charmante, scheinbar ungefährliche Gentleman. Seine kühlen Finger streichelten mein Gesicht wie der Hauch eines Windes.
„Ich werde Sie niemals töten, das habe ich Ihnen doch schon gesagt. Warum also haben Sie solche Angst vor mir?“
„Eigentlich fürchte ich mich gar nicht so sehr vor Ihnen, Monsieur, sondern nur vor Ihren Zähnen.“
Jetzt war er es, der lachte, aber nicht nervös, sondern ehrlich belustigt. „Dabei haben Sie sie noch nicht ein einziges Mal gespürt. Glauben Sie mir, es ist nicht halb so furchtbar, wie Sie denken. Aber ich werde jetzt nicht den Beweis dafür antreten. Sie brauchen noch Zeit.“

 

2

Engelstränen

(Teil 2 der Serie 'Ruf des Blutes')

Autorin: Tanya Carpenter

Copyright 2008 by Sieben-Verlag Ltd.

Erstausgabe 2008

Verlag: Sieben-Verlag Ltd., 64405 Fischbachtal

www.sieben-verlag.de

ISBN-10: 3940235199

ISBN-13: 978-3940235190

Broschiert, 220 Seiten

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Melissa Ravenwood ist nun ein Vampir. Doch ihre Seele leidet und selbst Armand ist machtlos gegen ihren Schmerz. Darum begibt sie sich in die Obhut des Lords Lucien von Memphis, um mit seiner Hilfe ihre menschliche Seite zu verlieren und ihre neue Natur als Vampir zu akzeptieren. Nicht ahnend, dass sie damit den bedrohlichen Visionen, die sie seit ihrer Wandlung quälen, den Weg bereitet. In Miami heftet er sich an ihre Fersen ein Dämon mit einem Herz so schwarz wie die Finsternis. Kurz darauf verwandeln sich Flüsse und Meere in Blut. Melissa muss die Ursache herausfinden und das Vorhaben ihres Widersachers vereiteln, sonst droht der Welt die ewige Nacht.

*

Leseprobe:

Prolog
Das Plätschern von Wasser. Eine klare Quelle. Kühlendes Nass. Gleitet durch meine Finger, fließt über Steine, bricht sich am Ufer. Ein Spiel von Glocken. Und leisen Panflöten.
Als würde der Gehörnte Gott spielen. Süßes Elixier des Lebens. Das meine Kehle benetzt.
Ich lausche dem Klang.
Dann die Hörner. Lautes Dröhnen. Keine Flöten mehr. Die Glocken verstummen. Rote Fäden im Bachlauf, wie ein Knäuel Würmer. Immer mehr, immer mehr. Rotes Wasser.
Bitterer Geschmack, nach Kupfer, nach Blut, in der Nacht …
Das Rauschen der Brandung mit dem Lied der Möwen dazu. Weißschäumende Gischt bricht sich am Ufer, umspült meine Füße. Eine salzige Liebkosung. Schaumkronen rollen heran. Der Ozean ruft, er lockt, mit dem Versprechen azurblauer Stille. Kinderlachen, Familienausflug ans Meer.
Plötzlich kreischen die Vögel, flüchten vor der Dunkelheit. Weinende Kinder. Wo ist die Sonne? Nur brodelndes Rot rollt heran, begräbt mich, zieht mich in die Tiefe. Über mir der schwarze Himmel, und der Strand trinkt Blut …

Denn so steht geschrieben
Wenn die Flüsse derer sieben
Die das Wasser des Lebens führen
Die Reinheit der Quellen verlieren
Weil sie wandeln zu Blut
Dann verlischt der Sonne Glut
Wenn alle Quellen Blut gebären
Wird der Mond die Sonne verzehren
Das schwarze Feuer sich entfacht
Es beginnt die ewige Nacht

Frankreich, 02. Oktober 1999

Benommen wischte ich mir über die Augen. Dieser Traum. Ich träumte ihn so oft seit der Wandlung. Sah die blutigen Flüsse, das blutige Meer. Und über allem eine schwarze Sonne, die kein Licht mehr spenden wollte. Die Szenerie machte mir Angst. Ich glaubte an prophetische Träume, auch wenn sie nicht immer eins zu eins in die Realität übertragen werden konnten. Aber wiederkehrende Träume neigten dazu, eine Bedeutung für die Wirklichkeit zu haben. Und ich war eine Hexe, Visionen waren bei mir nicht ungewöhnlich.
Armand bemerkte meine Unruhe und zog mich fester in seine Umarmung. „Scht, mon coeur. Schlaf noch ein Weilchen. Die Nacht ist noch weit.“
Er sank sofort wieder in tiefen Schlaf, und ich befreite mich vorsichtig von ihm, um ihn nicht zu wecken. Er sah so friedlich aus, wenn er schlief. Seine markanten Gesichtszüge entspannt. Das seidigschwarze Haar wie ein Schleier auf dem weißen Kopfkissen. Ich küsste seine Stirn, dann stand ich leise auf, weil ich wusste, ich würde keinen Schlaf mehr finden, geplagt von diesen Träumen und dieser schrecklichen Unruhe, die das Haus seiner Familie in mir auslöste, seit ich es betreten hatte. Mit Stolz hatte Armand mir unseren Besitz gezeigt. Es war seine feste Absicht, mir die Hälfte des Familienerbes zu überschreiben. Der Länderein, des großen Herrenhauses, des Weingutes, der Rennpferdezucht und der Juwelen. Ich war gerührt. Und ein wenig beschämt von so viel Großzügigkeit.
Doch das große Haus hatte eine bedrohliche, beängstigende Aura. Ich fand nur wenig Ruhe und daran waren nicht allein meine Träume schuld. Es waren die Stimmen, die von den Mauern widerhallten. Schon als Sterbliche hatte ich Kontakte zu Geistern gehabt. Jetzt durch Das Blut, schien diese mir angeborene Fähigkeit immer stärker zu werden. Ich kannte die Seelen nicht, die noch in diesen Mauern verweilten. Aber es waren seine Ahnen – meine Ahnen. Einige hatte ich bereits gesehen. Blasse, durchscheinende Gestalten, die über die Gänge wandelten, durch Mauern verschwanden. Einige hatten mir fragende Blicke zugeworfen, oder mich angelächelt. Ihre Seelen waren fest an diesem Ort verankert. Ob durch einen traumatischen Tod oder durch starke emotionale Bande. Aber alles in allem schienen sie mir nicht unglücklich zu sein, sondern eher zufrieden – aus freien Stücken verweilend und nicht vom Himmel ausgeschlossen.
Doch es gab auch noch eine andere Energie in diesem Haus. Dunkel, neidvoll und gepeinigt. Sie schien nach mir zu rufen, immer öfter, immer lauter. Mit ihren kalten unwirklichen Fingern nach mir zu greifen, als wolle sie mich in ihre Reihen ziehen, wo ich ihrer Meinung nach hingehörte. Sie neidete mir meine unsterbliche Natur. Dieser Neid war wie Gift, das von den Wänden sickerte und in mein Bewusstsein drang, eine kaum erträgliche Qual, die mir den Schlaf raubte, mein Glück mit Armand mehr und mehr trübte.
Ich ließ Armand in unserer geheimen Kammer tief unter dem Herrenhaus allein und durchstreifte ruhelos die unterirdischen Gewölbe. Folgte dem Ruf dieser einen Stimme, die noch keine Erlösung aus dem Irdischen erfahren hatte, obwohl sie zweifellos danach strebte. Ich wollte ihr helfen, wenn ich konnte. Damit sie mir meine frevelhafte Existenz vergab und mich in Ruhe ließ. Aber ich fürchtete mich auch vor dem, was sie tun würde, wenn ich ihr begegnete.
Armand gegenüber hatte ich die Geisterstimme mit keinem Wort erwähnt. Er schien sie nicht zu hören, schien auch die anderen Gespenster seines Heims nicht zu bemerken. Warum also sollte ich ihn da hineinziehen? Es war ja auch möglich, dass ich es mir nur einbildete, weil die vielen Eindrücke, die jetzt auf mich einstürmten noch so neu und ungewohnt waren, oder weil ich selbst noch mit meiner neuen Natur haderte. Immerhin war mir der Geist, der zu dieser einen Stimme, dieser düsteren Energie gehörte, noch nicht erschienen.
Und alle anderen Bewohner, sowohl lebend als tot, begegneten mir ohne Zorn oder Abneigung. Ziellos wanderte ich in den Kellerräumen umher, las die Etiketten auf den Weinflaschen, obwohl ich kein Wort Französisch verstand, bis ich schließlich an den kleinen vergitterten Raum kam, von dem Armand mir erzählt hatte, dass sein Vater ihn als Strafzelle für seine Söhne angelegt hatte, wenn diese mal wieder ungezogen waren. Jacques de Toulourbet war ein strenger Mann gewesen, trotzdem hatte mein Liebster ihn verehrt, zu ihm aufgesehen und versucht, in seine Fußstapfen zu treten. Bis ein Vampir ihm einen Strich durch seine Pläne und Träume machte. Armand verbrachte in seiner Jugend deutlich mehr Zeit in der Zelle, als sein Bruder Gaston. Er war der Rebell, der Wildfang, der Draufgänger. Später dann ein Hitzkopf, der zu viele Duelle ausfocht, und außerdem ein Frauenheld. Schmunzelnd ließ ich meine Finger über die Gitterstäbe gleiten, die es nicht vermocht hatten, das Temperament meines Geliebten einzusperren oder auch nur zu zügeln. Die Tür schwang auf, sie war nicht abgeschlossen. Ich hatte das Gefühl etwas Verbotenes zu tun, doch da mich die Neugier trieb und für einen Moment von meinen dunklen Gedanken über die Geisterstimme ablenkte, betrat ich Armands einstiges Strafquartier. Darin standen noch immer ein Tisch und ein Stuhl, wohl für die Strafarbeiten gedacht, und ein notdürftiges Bett. Hatte Jacques seine Söhne hier tatsächlich für mehrere Tage eingesperrt? Bei Wasser und Brot, wie Strafgefangene, mit Papier und Federkiel, um ihre Fehltritte niederzuschreiben und daraus zu lernen? Wie grausam.
Plötzlich fiel mit einem lautern Scheppern die Gittertür hinter mir ins Schloss. Der Riegel sprang vor, ich war gefangen. Im ersten Moment überrollte mich Panik, ich rüttelte am Gitter, doch vergebens. Dann besann ich mich meiner vampirischen Fähigkeiten und versuchte, die Tür mit der Kraft meines Geistes zu öffnen, was aber ebenso erfolglos blieb.
Ein hässliches Lachen hinter mir ließ mich herumfahren. Auf dem alten Holzschemel mit dem Rücken an die abgewetzte Oberfläche des Tisches gelehnt saß ein Geist – Gerard. Das schwarze Schaf in der Familie und der letzte legitime Träger des Titels Toulourbet, den Armand eigenhändig ins Jenseits befördert hatte, wie er mir einmal erzählt hatte.
„Schau, schau, schau, was für ein Vögelschen da im Käfik sitzt.“
Ruhig bleiben, sagte ich zu mir selbst. Er war nur ein Geist. Er konnte mir nichts tun. Das hoffte ich zumindest. Ich schaute mir Armands Nachfahren genauer an. In einem der Fotoalben, die wir uns angesehen hatten, war eine Sepiafotografie von ihm gewesen, dem Mann, den Armand hatte töten müssen, um das Erbe seiner Familie vor dem Bankrott zu bewahren. Von Angesicht zu Angesicht traten die vom Alkohol trüben Augen und die aschfahle Haut noch deutlicher hervor. Das Gemälde in der Ahnengalerie, das ihn als stolzen Landedelmann zeigte, war der blanke Hohn. Für einen Geist hatte er erstaunlich viel Substanz, was im Allgemeinen auf starke Emotionen hinwies, die ihn an einen Ort oder eine Person banden.
Gefühle waren das Bindeglied zwischen der Seele und der irdischen Welt. Je stärker sie waren, desto stärker war auch der Geist. Negative Gefühle wie Angst, Trauer, Hass oder  Wut verliehen meist mehr Energien, als Liebe oder die Sehnsucht, jemandem nahe zu bleiben. Die hinter Gerard liegende Steinmauer und der Tisch waren kaum wahrzunehmen, so stark konnte er sich manifestieren. Angesichts seiner Todesumstände lag die Erklärung dafür auf der Hand. Seine Aura flutete mir in einer riesigen Woge entgegen, und ich erkannte die negativen Schwingungen der gepeinigten Seele, die mir meinen Frieden raubte, weil sie selbst keinen fand. Er grinste hämisch, während er eine Münze in seiner Hand auf und ab schnippen ließ.
„Kopf oder Zahl?“, fragte er unvermittelt und mit einem sehr starken französischen Akzent.
„Wie bitte?“
„Fais ton choix! Triff deine Wahl. Wenn du gewinnst, lass isch disch gehen, wenn du verlierst, bleibst du ’ier in der Zelle und dein ’eld sieht disch nie wieder.“
„Das glaube ich kaum. Du bist ein Geist. Und ich kann dich beim Namen nennen. Das bedeutet, du hast keine Macht über mich, Gerard.“
Ich brachte ihn mit meinen Worten zum Lachen. Göttin, er hatte so ein ekelhaftes Lachen, das nach Wahnsinn und Hysterie klang. Er wäre zu Lebzeiten wohl eher ein Fall für die Nervenheilanstalt gewesen. Ich konnte Armand nur Recht geben, dass er dieses Subjekt getötet hatte.
„Kopf oder Zahl? Kopf oder Zahl?“ intonierte er immer wieder, ließ die Münze springen und erhob sich von seinem Schemel, um mich lauernd zu umkreisen. Trotz meiner Überzeugung, dass er mir nichts tun konnte, machte mich sein Verhalten unruhig. Was hatte er vor? Dann war er von einer Sekunde zur anderen einfach verschwunden. Ich atmete auf.
Dem Himmel sei Dank, dass der Spuk vorbei war. Doch als ich mich wieder zur Tür um drehte, um sie zu öffnen, erhielt ich einen heftigen Schlag von hinten, der mich gegen das Gitter presste und einige Rippen knacken ließ. Schmerz und ungläubiges Entsetzen rollten in einer Welle über mich hinweg. Dieser Geist war offenbar zu mehr fähig, als ich angenommen hatte.
„Du kommst ’ier nie wieder raus, Vögelschen. Isch gewinne immer. Kopf oder Zahl?“
Er lachte hämisch.
Der nächste Stoß warf mich auf die Pritsche, die unter der Wucht zusammenbrach. Ein zwanzig Zentimeter langer Holzsplitter drang in meinen Rücken, verfehlte nur knapp mein Herz, durchbohrte stattdessen schmerzhaft meinen linken Lungenflügel, der sofort kollabierte. Ich schmeckte Blut. Das mit der Lunge war nicht lebensbedrohlich, weil ich ja keinen Sauerstoff mehr brauchte. Aber auch als Vampir hatte ich einen natürlichen Atemreflex, den ich nur schwer unterdrücken konnte und der für Sprache und Geruchsinn auch unabdinglich war. Das Gefühl, Luft in einen nicht funktionsfähigen Lungenflügel ziehen zu wollen, war scheußlich. Ich spürte die Masse aus Lungenbläschen zittern, zucken, kämpfen, um sich wieder aufzublähen. Das vampirische Blut sammelte sich in den zerstörten Alveolen, pulsierte durch die Bronchialäste, bis das Organ nach und nach wieder anfing, seine Aufgabe zu übernehmen. Jetzt reichte es aber. Entschlossen zog ich den Splitter aus meinem Brustkorb und schleuderte ihn in die Richtung, in der ich Gerards Geist vermutete.
Sein Lachen erklang direkt über mir. Ich hob den Kopf und spürte im nächsten Moment seinen ätherischen Körper, der durch mein untotes Fleisch glitt und es mit tausend winzigen Nadelspitzen traktierte. Schützend schlang ich meine Arme um den Kopf und kauerte mich auf den Boden. Das Ganze konnte doch wohl nur ein Alptraum sein. Ich mochte nicht glauben, dass mir das tatsächlich widerfuhr.
„Aufhören! Hörst du? Hör sofort auf damit. Ich habe dir überhaupt nichts getan.“
Aber schon kam die nächste Attacke von der Seite. Dieses Geschöpf schien die feste Absicht zu haben, mich all die Wut und Enttäuschung, die sich in den vergangenen hundert Jahren in ihm aufgestaut hatten, fühlen zu lassen.
„Arrête! Schluss damit!“ Die Zellentür flog auf und zerbarst krachend an der Steinmauer.
Mörtel, Gesteinsbrocken und Eisensplitter rieselten gemeinsam zu Boden, als Armand mit seiner Aura den ganzen Raum ausfüllte. Drohend, mächtig, unbesiegbar. „Arrête!“, wiederholte er, die Augenbrauen zusammengezogen, sodass sich eine steile Falte dazwischen gebildet hatte. Er sah furchteinflößend aus. In seinen Augen blitzte es mordlustig, die Lippen waren zu einer schmalen Linie zusammengepresst, die Hände mit den messerscharfen Fingernägeln zu Klauen gekrümmt. „Zurück in deine Höllengruft, Gerard, oder ich beweise dir, dass auch ein Geist noch körperliche Qualen leiden kann.“ Er machte einen energischen Schritt auf meinen Peiniger zu, woraufhin dieser mit einem angsterfüllten Jammerlaut durch die Steinmauer hinter der zerbrochenen Pritsche floh. Armand hob mich wortlos auf seine Arme und brachte mich zurück in unser Schlafquartier, ein kleines Häufchen Elend, das mit der Situation völlig überfordert war. Dort angekommen legte er mich auf das Bett, schob das blutverschmierte Shirt nach oben, um nach meiner Verletzung zu sehen. Doch die Stelle, an der mich der Splitter durchbohrt hatte, war bereits verheilt.
„Pardonne-moi! Ich hätte dich warnen sollen, dass dieses Gemäuer noch immer ein paar Geister beherbergt. Unter anderem Gerards ruhelose Seele.“
„Ich habe ihre Stimmen gehört und auch einige Geister gesehen. Aber ich hätte nicht gedacht,
dass mich einer von ihnen angreifen würde.“
Er streichelte beruhigend mein Gesicht. „Das werden sie auch nicht. Sie alle sind friedlich und wollen nur in Ruhe in ihrem einstigen Zuhause verweilen. Aber Gerard war schon zu Lebzeiten ein übler Zeitgenosse. Ich hätte ihn gleich bei unserer Ankunft in seine Schranken weisen sollen. Er fürchtet mich. Aber offenbar dachte er, er könne die Gelegenheit nutzen, seinen Schabernack mit dir zu treiben.“
Schabernack war stark untertrieben. „Ich hatte eher das Gefühl, dass er die Wut, die er auf dich hat, an mir auslassen wollte. Irgendwie kenne ich das Gefühl nun zur Genüge.
"Würdest du mich bitte vorwarnen, falls es noch weitere Racheengel gibt, die darauf warten,
eine offene Rechnung mit dir an mir zu begleichen?“
Er senkte schuldbewusst den Blick. Als Sterbliche hatte ich wahrlich genug leiden müssen, war beinah gestorben, nur weil ein anderer Vampir noch Rachegelüste für ihn empfand.
„Es wird keine weiteren Angriffe mehr geben, mon amour. Je prends garde à toi. Ich passe auf dich auf. Ich werde dich mit meinem Leben beschützen. Jetzt und in alle Ewigkeit.“

3

Dämonenring

(Teil 3 der Serie 'Ruf des Blutes')

Autorin: Tanya Carpenter

Copyright 2009 by Sieben-Verlag Ltd.

Erstausgabe 2009

Verlag: Sieben-Verlag Ltd., 64405 Fischbachtal

www.sieben-verlag.de

ISBN-10: 3940235318

ISBN-13: 978-3940235312

Broschiert, 216 Seiten

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Ein Serienkiller dezimiert die Mitglieder des House of Lords. Die Ashera arbeitet gemeinsam mit dem MI5 an der Aufklärung der mysteriösen Mordfälle, doch der Agent, dem Melissa zur Seite gestellt wird, strapaziert ihre Nerven. Dann taucht Dracon in der Stadt auf und sorgt für zusätzlichen Ärger. Armands Eifersucht lässt ihn zum Raubtier werden. Als auch noch die Crawler aus ihren Verstecken kriechen, spitzt sich die Situation zu. Melissa muss herausfinden, wer hinter all dem steckt und wie man ihn aufhalten kann. Doch die Zeit läuft gegen sie.

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Rezensionen von Amazon.de-Kunden:

An den dritten Teil der Reihe hatte ich große Erwartungen. Ich wollte so viele Antworten auf offene Fragen der letzten Teile und ich wollte wissen, wie Mel es schafft sich mit "ihrem" Dämon zu arrangieren. Und? Ich wurde nicht enttäuscht, ganz im Gegenteil!!! :-)

Der Roman ist rasant geschrieben, in der packenden Art und Weise, die ich (seit den ersten Zeilen, die ich von Tanya Carpenter gelesen habe) so liebe. Der Sog-Effekt ist unglaublich, man hängt beim lesen regelrecht zwischen den Welten!

Franklin setzt Mel auf mysteriöse Mordfälle an hochrangigen Mitgliedern der englischen feinen Gesellschaft an. Es ist offensichtlich, dass hier Wesen der "anderen" Welt am Werk waren. Warren, ein Agent des MI 5 erschwert allerdings die Untersuchungen, er wird Mel an die Seite gestellt, da die Morde öffentliches Interesse erregt haben. Der Agent verfällt schnell dem überirdischen Wesen Mels und als dann auch noch Dracon in der Stadt (mit eindeutigen Absichten bezüglich Mel) auftaucht, sieht Armand rot! Ein Panther erwacht in ihm, ein tödlich gefährliches Raubtier, das nach Blut schreit.... .

Endlich gibt es mehr "Armand", seine ganze Person wird weiter entwickelt und gewinnt von Seite zu Seite. Mel hab ich schon immer gemocht und auch in diesem Buch zeigen sich wieder viele neue Facetten ihres "neuen" Ichs, es wird gezeigt, wie sie immer mehr von der menschlichen Seite in sich abdrifftet, auch teilweise fatale Entscheidungen trifft und darunter leidet... .

Was mir ebenfalls sehr gefiel, ist dass die "Geschichte" der Crawler geklärt wird, das hat mir sehr gefallen, denn ihr Fürst ist eine sehr interessante Person, ich hoffe in Zukunft noch mehr von ihm lesen zu können. Warren ist auch ein sehr sympathischer Prota, ich freue mich auf mehr von ihm!

Tanya Carpenters Welt ist einzigartig! Jede Seite ist purer Genuss!

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Dies ist bislang das beste, weil ausgereifteste Buch aus der Feder von Tanya Carpenter. Die Sprache ist eingängig und gehoben. Die Autorin vertieft die von ihr entworfene Welt und verleiht ihr zunehmende Komplexität. Die Idee, Ringe mit dem Schaffungsmythos der Vampire zu verbinden, ist originell und gut umgesetzt. Melissas "Familie" wird im Laufe des Romans größer, während gleichzeitig ihre Liebe zu Armand unter keinem guten Stern zu stehen scheint. Sexszenen gibt es nach wie vor, doch sie treten zunehmend hinter der Handlung zurück und sind sehr geschmackvoll ausgestaltet. Die Stimmung ist zugleich sanfter und düsterer als in den Vorgängerromanen. Tanya Carpenter schreibt mit viel Gefühl, und vor allem mit viel Gefühl für ihre Figuren. Innerliche wie äußerliche Konflikte sind reichlich vorhanden und überzeugend begründet. Überwog in den früheren Büchern noch der Anteil der sexuellen Handlungen, konzentriert sich Carpenter hier auf die Gefühlsebene der Protagonisten, und das tut dem Roman sehr gut.

Aufgrund einer Äußerlichkeit muss ich dem Roman jedoch einen Punkt abziehen: Das Lektorat hat nicht so sorgfältig gearbeitet, wie der Leser das hätte erwarten können. Zahlreiche Kommafehler und falsch geschriebene beziehungsweise fehlende Worte stören den Lesefluss empfindlich, der aufgrund der Sprache an sich fließend hätte sein können.

Ich bin kein Mensch, der sich zu sehr an Äußerlichkeiten klammert, aber hier ist das so augenfällig, dass ich es nicht einfach übergehen kann.

Der Qualität der Geschichte tut dies jedoch keinen Abbruch. Tanya Carpenter hat eine eigene Handschrift und erweitert das Vampirroman-Genre durch ihre frischen Ideen auf originelle Weise.

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Leseprobe:

„Bist du allein?“ fragte mein Vater, als er mich in der Hotel-Lobby begrüßte.

„Armand ist eingeschnappt, was ich ihm nicht verdenken kann.“

Der Hauch eines Vorwurfs schwang in meiner Stimme mit, was Dad nicht entging. Aber schließlich war es ja meine Entscheidung gewesen, während meines Urlaubs die Emails des Ordens abzufragen.

„Lass uns auf mein Zimmer gehen. Dort sind wir ungestört“, bat Franklin.

Seinem misstrauischen Blick in die Runde, der sonst gar nicht seine Art war, entnahm ich, dass die Angelegenheit noch heikler war, als ich aufgrund seiner Nachricht vermu-tet hatte. In seinem Zimmer holte er ein blaues Samtbeutelchen hervor und legte es mir in die Hand. Behutsam öffnete ich die Verschnürung und lugte hinein. Aus dem Inneren strahlten mir drei bunt schillernde Juwelen entgegen.

„Tränen Luzifers“, sagte mein Vater bedächtig. „Insgesamt spricht man von eintausend. Kleine Kristalle, die in allen Farben leuchten. Es sollen tatsächlich die Tränen des gefallenen Engels sein. Als sie vom Himmel fielen, wurden sie dort, wo sie die Erde berührten, zu Kristallen. Engelstränen, die für die Menschen vergossen wurden, als Gott sich von ihnen abwandte. Dafür wurde Luzifer aus dem Himmel vertrieben. Für sein Mitleid mit uns Menschen.“

„Glaubst du daran?“ Ich verspürte ein ungutes Gefühl in der Magengegend. Mein letzter Fall hatte ebenfalls mit den Tränen von Engeln zu tun gehabt, und die Menschheit hatte kurz vor der Ewigen Nacht gestanden. In letzter Sekunde hatten wir den Untergang der Sonne verhindern können. Vampire, Menschen und Lycaner mit vereinten Kräften.

Franklin lächelte still und bemerkte nichts von meinen Gedankengängen.

„Alles ist möglich, wie du weißt. Die Macht dieser Tränen ist unleugbar wahr. Wenn also ein Teil der Legende stimmt, warum dann nicht auch der Rest? Doch die ganze Wahrheit werden wir wohl nie erfahren.“

„Wo sind die anderen Tränen?“

„Abgesehen von diesen dreien sind alle, die sich in unserem Besitz befinden, im Mutterhaus in Montreal. In sicherer Verwahrung.“

Die Ashera erforscht und dokumentiert übersinnliche Phänomene nicht nur, wir versuchen auch, zwischen Menschen und übernatürlichen Wesen zu vermitteln, nehmen PSI-begabte Menschen bei uns auf und verwahren okkulte und paranormale Relikte. Bei all diesen Tätigkeiten sind wir stets bemüht, uns so wenig wie möglich einzumischen, was manchmal leider nicht so einfach ist. Besonders dann nicht, wenn eine akute Bedrohung für die eine oder andere Seite besteht.

„Sichere Verwahrung? Sind sie so gefährlich?“

„Ihre Macht kann gefährlich sein. Wenn man eine zerspringen lässt, kann man das Schicksal der Welt beeinflussen. Hitler hatte zwei von ihnen in seinem Besitz und hat sie beide benutzt. Du weißt, was dann geschehen ist. Der römische Kaiser Nero hatte eine. Ramses I. soll eine besessen haben. Es ist viel Schaden angerichtet worden mit diesen Tränen. Deshalb sind sie in sicherer Verwahrung. Um ihren Missbrauch zu verhindern.“

„Dann ist der Begriff ‚teuflisch’ für Luzifer wohl wirklich nicht so falsch“, wagte ich einzuwerfen. Engelstränen bedeuteten einfach nichts Gutes. Egal, wer sie weinte.

„Oh, Mel, das ist ungerecht. Er hat die Tränen nicht um des Schadens Willen vergossen, sondern aus Mitleid. Ihre Macht lautet nur, dass man das Schicksal der Welt mit ihnen beeinflussen kann, zum Guten wie zum Bösen. Es ist die Wahl der Menschen, wie sie wirken, nicht die des gefallenen Engels. Und im Menschen lauert nun mal seit jeher das Böse.“

„Ist auch Gutes damit bewirkt worden?“ Ich musste die Frage einfach stellen.

„Nun, es heißt, der heilige Franz von Assisi hätte eine besessen. Und Mutter Theresa ebenfalls. König Salomon hatte angeblich zehn. Und sicher noch eine ganze Menge anderer Menschen. Es gibt immer zwei Seiten einer Medaille.“

Ich schloss den Beutel und reichte ihn Franklin zurück.

„Okay, lassen wir es mal dahin gestellt sein, ob die Tränen gut oder böse sind. Aber was genau haben die mit dem Fall zu tun? Du hast nur etwas von paranormaler Aktivität im Vatikan geschrieben.“

„Der Vatikan hat dreiundfünfzig Tränen in seinen Archiven.“ Mir blieb der Mund offen stehen. Diese heuchlerischen Scheinheiligen. „Es ist zunächst nur ein Gerücht“, beschwichtigte Franklin, „aber dass der Vatikan so etwas bestätigen würde, kann man kaum erwarten. Eine Menge Hinweise deuten darauf hin, dass es nicht nur ein Gerücht ist. Und dass es Zeiten gab, in denen noch mehr Tränen dort lagerten. Es sind wohl auch schon einige verwendet worden.“

„Soll ich die Dinger stehlen, damit diese verblendeten Kirchgänger keinen Schaden mehr damit anrichten?“ Vor meinem geistigen Auge zogen von den Kreuzzügen über die Inquisition bis hin zu gewaltsamen Missionierungen heidnischer Völker alle möglichen Schreckensszenarien vorbei, bei denen solch ein Kristall womöglich Einsatz gefunden hatte. Ich würde Pettra anrufen, ebenfalls eine Vampirin, aber von anderer Art. Meine Daywalker-Freundin war für Einbrüche prädestiniert. Schließlich verdiente sie damit ihren Lebensunterhalt.

„Nein!“, sagte Franklin entschieden. „Und ja“, setzte er etwas leiser hinzu. „Wenn du an sie herankommst, bringst du sie selbstverständlich mit. Ich muss wohl nicht erwähnen, dass bei dieser ganzen Aktion kein Verdacht auf die Ashera fallen darf.“

Ich grinste zynisch. „Warum sonst hättest du ausgerechnet mich um Hilfe gebeten? Das einzige Ashera-Mitglied, das nahezu unsichtbar in den Hochsicherheitsbereich des Vatikan kommt und wieder raus.“

Meine Offenheit behagte Franklin nicht. Es war illegal, was wir hier besprachen. Einbruch, Diebstahl. Aber manchmal heiligte der Zweck die Mittel. Mir genügte die Macht der Tränen als Zweck, um sie den Kirchenvätern zu entwenden. Aber mein Vater brauchte noch einen weiteren Grund, um diesen Schritt zu tun.

„Ich hätte so eine Aktion nie in Erwägung gezogen, wenn die aktuellen Vorkomm-nisse es nicht erforderlich machen würden.“

In seinen Augen las ich nackte Angst, etwas, das meinem Vater gar nicht ähnlich sah.

„Im Vatikan versucht gerade ein Sapyrion die Tränen zu stehlen.“

 

Diese Nachricht ließ auch in Armand jeden Widerwillen, den Fall zu übernehmen, verschwinden. Ein Sapyrion. Ein Dämon aus den Tiefen der Unterwelt. So absolut böse und verdorben, dass selbst andere Dämonen sich von ihm fern hielten. Diese Kreaturen waren Ausgestoßene und dem Himmel sei Dank waren die Tore zur Menschenwelt normalerweise für sie verschlossen.

Was mich zu der Frage brachte, wie dieser Sapyrion es geschafft hatte, ein Dimensionstor zu durchschreiten.

War er einem anderen Dimensionswandlers heimlich gefolgt? Unwahrscheinlich. Die Hitze dieser Wesen machte es ihnen unmöglich, sich unerkannt einem anderen zu nähern. Pyro – das Feuer – war schon Bestandteil ihres Namens und mehr als bezeichnend. Ihre Haut glühte rotschwarz, was sie berührten erlitt Brandspuren – je wütender ein Sapyrion war, desto schlimmer die Verletzungen, die er hervorrief. Außerdem konn-ten sie Feuerbälle werfen. Nicht gerade tolle Aussichten für Armand und mich. Ausgerechnet Feuer – das Einzige, was uns wirklich schaden konnte. Aber jemand musste dieses Wesen aufhalten und vor allem verhindern, dass es die Tränen in die Hände bekam, wenn ich auch noch nicht wusste, wie wir das anstellen sollten.


Armand und ich entschieden, noch in dieser Nacht die Lage auszukundschaften. Der Sapyrion war schon seit fast einer Woche in den Mauern des Vatikan unterwegs. Möglicherweise war er den Tränen näher, als uns allen lieb sein konnte. Was würde solch eine Kreatur mit dreiundfünfzig Tränen Luzifers anstellen? Die Welt in eine zweite Hölle verwandeln? Lava-Ströme? Feuerwände? Flammen, die ohne Brennmaterial überleben konnten? Alles war möglich mit diesen Kristallen.

Im Zentrum des Vatikan herrschte Hochbetrieb. Die Schweizer Garde schien in Komplettbesetzung Dienst zu tun. So viele rot-gelb-blau gestreifte Uniformen hatte wohl selbst der Papst noch nie auf einem Haufen gesehen. Wir verharrten auf dem Dach des Petersdoms und beobachteten den bunten Ameisenhaufen unter uns.

„Ich denke, denen ist es lieber, wenn sie dem Dämon nicht begegnen“, meinte Armand und seine Stimme triefte vor Sarkasmus. „Die wissen so gut wie wir, dass sie weder mit ihren Hellebarden, noch mit ihren Sturmgewehren etwas gegen dieses Ding ausrichten können.“

Ich schwieg, konnte Armand gedanklich aber nur zustimmen. So kampfesmutig sie auch alle taten, es war diesen Männern klar, dass der Gegner, der hier in den Schatten lauerte, nicht von dieser Welt war. Und dass eine Begegnung mit ihm den Tod bringen konnte. Franklin hatte mir berichtet, dass schon sieben Gardisten gestorben waren und etliche weitere mit Brandverletzungen in der Klinik lagen. Dennoch weigerte sich der Vatikan wie immer beharrlich, die restliche Welt in die Vorgänge innerhalb seiner Mauern einzuweihen. Man war schließlich so was wie die Macht Gottes auf Erden. Da würde man doch mit einem einzelnen Teufel klar kommen!

Ich lachte bitter. Mit ihrem Teufel hatte der Sapyrion wenig gemein. Gegen seine Bosheit war der christliche Satan ein Klosterschüler. Neid, Gier und Zerstörungswut waren die Natur des Sapyrion. Die schwarz verkohlten Stellen an einigen Außenwänden und der Brandgeruch, der über dem gesamten Vatikanstaat lag, waren ein deutliches Zeugnis für seine Anwesenheit und sein Handeln.

Plötzlich erklang ein ohrenbetäubendes, unmenschliches Kreischen, wie von einem wütenden Stier, direkt unter uns. Der Sapyrion war im Petersdom. Das Splittern von Holz und Bersten von Gestein kündete von seinem Wirken. Er würde das verdammte Ding auseinandernehmen.

Auf dem Platz vor uns stoben die Schweizer Gardisten wie ein aufgescheuchter Fliegenschwarm in die entgegengesetzte Richtung davon. Armand und ich konnten ihren Angstschweiß riechen. Gegen diesen Feind würde keiner von ihnen den Kirchenstaat verteidigen.

„Welch Ironie, dass ausgerechnet eine Hexe als Retterin der katholischen Zentrale fungieren soll“, meinte ich.

Armand antwortete mit einem breiten Grinsen und sprang dann einem Schatten gleich vom Dach in die Tiefe. Ich folgte ihm lautlos.


Schon von Notre Dame kannte ich den Prunk, den die Kirche so gern zur Schau stellte, aber der Petersdom raubte mir wieder einmal den Atem. Trotz der herabgestürzten Fresken und der drei zertrümmerten Sitzreihen. Von dem Sapyrion selbst war nichts zu sehen.

Ich hatte den Gedanken kaum zuende gedacht, da erzitterte der Boden unter unseren Füßen und wir mussten uns an den Kirchbänken festhalten.

„Er ist bei den Krypten“, sagte ich.

In Sekundenschnelle durchquerten wir das Kirchenschiff, schritten die Stufen zu den Grabmalen hinab und dort stand er – der Sapyrion. Zwei Meter hoch, mit schwarzen, gezackten Flügeln, die knochig wirkten, nur mit einer lederartigen Haut bespannt. Sein Torso glühte in pulsierendem Rot, Arme und Beine waren ebenfalls lediglich Knochen, mit einem flexiblen Gewebe überzogen. In der klauenartigen Hand hielt er eine steiner-ne Schatulle, deren Deckel halb geöffnet war. Regenbogenfarben leuchteten uns daraus entgegen.

„Verdammter Mist, er hat sie gefunden“, rief ich aus.

Der Kopf des Sapyrions schoss herum, als er meine Stimme hörte, schwarze Kohlestücke statt Augen und ein Raubtiergebiss hinter verschrumpelten Lippen. Er riss sein Maul weit auf, roter Geifer tropfte von den langen Zähnen und wieder erklang dieser markerschütternde Schrei, den wir schon oben auf dem Dach vernommen hatten. In der nächsten Sekunde flog uns ein Feuerball entgegen. Geistesgegenwärtig sprangen Armand und ich auseinander, die Kugel schlug in der Wand hinter uns ein, ließ einen Teil des Mauerwerks zusammenstürzen und verglühte. Der Sapyrion stob an uns vorbei nach oben ins Kirchenschiff, heißer Wind verbrannte uns die Gesichter, doch wir folgten ihm sofort. Ein zweiter Feuerball begrüßte uns, als wir den Altarraum wieder betraten. Auch diesem wichen wir aus. Ich erhaschte einen genaueren Blick auf den Torso unseres Gegners – unter der Lederhaut des Brustkorbes konnte man das rotglühende Herz schlagen sehen. Ich realisierte, dass dies seine einzige verwundbare Stelle war.

Mein Blick wanderte von dem brüllenden Dämon durch den Innenraum des Doms, der Bronzethron des Hochaltars war durch den Feuerball zerstört, der hölzerne Sitz, der lange Zeit als Bischofsstuhl des Petrus gegolten hatte, zersplittert. Da sah ich plötzlich das Taufbecken mit den beiden Marmorengeln.

Geweihtes Wasser! Wasser und Feuer. Das konnte klappen. Ich sammelte meine geistigen Kräfte. Armand folgte meinem Blick aus seiner sicheren Deckung. Das Becken hob sich aus seiner Verankerung, Schweißperlen traten mir auf die Stirn, ich war zu ungeübt in diesen Dingen. Da kam mir Armands Kraft zu Hilfe und gemeinsam schleuderten wir das marmorne Gefäß gegen die Brust des Sapyrions.

Ein lautes Zischen, der Dämon kreischte auf vor Schmerz, ließ seine Beute fallen und ging in die Knie, doch noch ehe ich triumphierend jubeln konnte, war er auch schon wieder auf den Füßen.

Okay, das war daneben gegangen und hatte ihn nur noch wütender gemacht. Sein Zorn schlug uns in einer Hitzewelle entgegen, gefolgt von weiteren Feuerbällen, denen wir nur durch unsere vampirische Geschwindigkeit entkamen. Wie Eichhörnchen an einem Baumstamm klammerten wir uns an den Wänden fest und sprangen von einer Freske oder Balustrade zur nächsten. Der Sapyrion richtete sein Hauptaugenmerk dabei auf mich.

„Distrais-le“, rief Armand mir zu.

„Was?“ Ich war gerade zu beschäftigt, um in meinen Hirnwindungen nach der Übersetzung zu suchen.

„Lenk ihn ab!“

„Was hast du vor?“

„Lenk ihn einfach nur ab!“

Einfach nur ablenken. Na prima. Sollte ich mich als Brathähnchen anbieten? Armand sprang mit einem riesigen Satz Richtung Hauptportal, sofort riss der Feuerdämon den Kopf herum und schickte sich an, einen Feuerball gegen meinen Liebsten zu werfen. Das konnte ich nicht zulassen.

„Hey, Glühwürmchen“, rief ich ihm entgegen. „Mein Elektroherd wird heißer als du.“

Ich bezweifelte zwar, dass er auch nur ein Wort verstand, aber zumindest verlagerte sich seine Aufmerksamkeit auf mich zurück. Doch statt einen neuen Feuerball zu wer-fen, ging der Sapyrion diesmal in die Knie und stieß sich kraftvoll ab, um vor mir auf der Empore zu landen. Meine Haare knisterten unter der Hitze, ich spürte, wie sich erste Blasen auf meiner Haut mit Flüssigkeit füllten. Lebendig gegrillt zu werden, ent-sprach nicht meiner bevorzugten Todesart. Kurzerhand ließ ich mich fallen und landete vor dem zerstörten Hauptaltar. Ein heftiger Windstoß brachte mich ins Wanken, er kam vom weit geöffneten Hauptportal. War Armand noch zu retten? Er konnte diesem Biest doch nicht auch noch die Tür aufmachen. Wenn das Vieh erst mal draußen war, würden wir es nie erwischen. Allerdings war es auch äußerst fraglich, ob wir es hier drinnen besiegen konnten, ehe es uns mitsamt dem Dom zu einem Häufchen Asche verbrannte.

Meine Haut spannte sich schmerzhaft, obwohl die Heilung bereits einsetzte, der scharfe Geruch nach meinem eigenen verbrannten Fleisch ließ Übelkeit in mir aufstei-en. Alles in mir schrie nach Flucht. Ich spürte die zunehmende Hitze wie eine Druckwelle, als der Sapyrion wieder nach unten sprang, schaffte es gerade noch rechtzeitig aus der Gefahrenzone, ehe seine klauenbewehrten Füße auf dem Boden aufkamen und zwei tiefe Löcher ins Gestein drückten. Jeder Atemzug schien meine Lunge zu verbrennen.

Da wurde es plötzlich kühler. Auch der Sapyrion bemerkte die Veränderung und hielt verwundert inne. Wir blickten beide Richtung Ausgang, wo Armand konzentriert und angespannt stand, über ihm eine dunkelgraue Wolke voller Regenwasser. Woher …? Doch dann wurde es mir schlagartig klar. Der Brunnen auf dem Petersplatz. Armand hatte meine Idee aufgegriffen und sie mit einer riesigen Menge Wasser umgesetzt. Die Wolke näherte sich dem Sapyrion, der mit drohendem Gebrüll langsam zurückwich. Doch seine Beute lag zwischen ihm und der Wolke. Ohne sie wollte er diesen Ort nicht verlassen. Wir hechteten beide auf die Schatulle zu, ich war schneller, erwischte sie mit dem Fuß und brach mir schmerzhaft die Zehen, als ich sie außerhalb seiner Reichweite stieß. Im selben Moment erreichte uns die Regenwolke und öffnete ihre Schleusen. Das Zischen von hundert Dampfkesseln erfüllte den Raum, der anschließend in undurchdringlichem Dunst lag. Die Schmerzensschreie des Sapyrions hallten von den Wänden, seine Haut nahm eine grauweiße Färbung an, er zitterte und brach auf dem Boden vor dem Altar zusammen. Ich reagierte ohne nachzudenken, ignorierte den Schmerz in meinen Händen, als ich ihn an den Armen packte, die noch immer heiß waren wie ein aktiver Vulkan, und schleuderte den geschwächten Körper Richtung Altar. Der Sapyrion spreizte seine mächtigen Schwingen genau in dem Moment, in dem sein Torso auf den Überresten des Bronzethrons aufschlug. Ein spitzer Pfahl vom gesplitterten Bischofs-Sitz des Petrus ragte aus seiner Brust, hatte das Herz durchbohrt. Ungläubig starrte der Dämon das blutverschmierte Holz an, seine Klauen umfassten das Ende und rissen es heraus. Blut strömte aus der Wunde, floss zischend zu Boden. Noch einmal schlug der Dämon mit seinen Flügeln, kam mit aufgerissenem Maul auf mich zu ehe er zusammenbrach. Sein Körper schlug auf dem Steinboden auf, er zuckte noch mal, dann löste sich die Gestalt in Rauch und Nebel auf. Es folgte eine beängstigende Stille.

Suchend blickte ich mich um, sah die offene Steinschatulle unter der halb zerbrochenen Figur der heiligen Veronika. Einige Kristalle waren aus dem Behältnis gefallen. Ich sammelte sie mechanisch ein. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Armand zu der Stelle ging, wo der Sapyrion zusammengebrochen war. Er kniete sich hin und untersuchte den dunkelroten Fleck, der das Ableben unseres Gegners markierte. All das nahm ich nur verschwommen wahr. Mein Blick war auf die schimmernden Kristalle in meiner Handfläche gerichtet. Die Macht, das Schicksal der Welt zu beeinflussen. Meine Hand zitterte, die Tränen schienen zu leben, sie bewegten sich, funkelten in allen Farben, ich konnte sie flüstern hören.

„Wage es, wage es, das Schicksal liegt in deiner Hand.“

Ich hatte nicht gemerkt, dass Armand schon wieder zu mir getreten war. Mit seiner Linken umfasste er sanft mein Handgelenk. Mit der Rechten schloss er meine Finger über den Kristalltränen.

„Denk nicht mal daran. Leg sie zurück und lass uns die Schatulle zu Franklin bringen, ehe die gestreiften Ameisen hier wieder auftauchen. In den Händen der Ashera werden die Tränen sicherer sein und keinen Schaden mehr anrichten.“