"Das Fragment einer Novelle"

von

Lord Byron

(Obwohl Byron nie ein großes Stück Vampir-Literatur geschrieben hat, sorgt dieses Fragment dafür, dass aus dem schäbigen Wiedergänger ein Mann mit Anziehungskraft wird. Byron veröffentlicht das Fragment nur, weil er beweisen will, dass "Der Vampyr", dieses seiner Meinung nach simple Machwerk, nicht aus seiner Feder stammt.)

Im Jahr 17 --, als ich schon seit einiger Zeit zu einer Reise durch die Länder entschlossen war, die bisher nicht viel besucht worden sind, brach ich in Gesellschaft eines Freundes auf, den ich hier Augustus Darvell nennen will. Er war nur wenige Jahre älter als ich und ein Mann von ansehnlichem Vermögen und alter Familie – Vorzüge, die er dank seiner grenzenlosen Tüchtigkeit weder überschätzte noch für zu gering achtete. Einige besondere Umstände in seiner Lebensgeschichte machte ihn für mich zu einen Gegenstand der Aufmerksamkeit und des Interesses, und sogar der Achtung, die weder sein zurückhaltendes Wesen, noch gelegentliche Zeichen seiner Unruhe, die zu Zeiten an Geistesabwesenheit streifte, auslöschen konnten.


Ich war noch jung im Leben, das ich frühzeitig begonnen hatte; unser Vertrauensverhältnis bestand erst seit kurzem: Wir waren auf derselben Schule und Universität erzogen worden; doch sein Durchgang war vor dem meinigen erfolgt, und er war bereits tief in die Angelegenheiten der sogenannten Welt verwickelt, als ich noch im Noviziat lebte. Während dieser Zeit hatte ich viel von seinem vergangenen und gegenwärtigen Leben gehört und konnte, obwohl es in diesen Berichten viele und unvereinbare Widersprüche gab, doch aus dem Ganzen entnehmen, dass er kein gewöhnlicher Mensch war, ein Mann, der immer auf sich aufmerksam machte, soviel Mühe er sich auch gab, der Beachtung zu entgehen.


Ich hatte in der Folge seine Bekanntschaft kultiviert und seine Freundschaft zu erhalten gesucht, aber das letztere schien unerreichbar; welche Neigungen er auch besessen haben mag, einige schienen jetzt erloschen, andere noch stärker hervorzutreten; dass seine Gefühle mächtig waren, hatte ich genug Gelegenheit zu beobachten; denn, wenn er sie auch beherrschte, so konnte er sie doch nicht immer verhehlen; doch er besaß die Kraft, einer Leidenschaft den Schein einer anderen zu geben, so dass es schwer fiel zu enträtseln, was in ihm gärte; und der Ausdruck seiner Züge wechselte so rasch und leicht, dass es umsonst war, ihn bis zu seiner Quelle zu verfolgen. Offenbar war er die Beute eines unheilbaren Schmerzes, ob dieser jedoch aus Ehrgeiz, Liebe, Gram, Reue, aus einem oder allen diesen entsprang, konnte ich nicht entdecken: Es gab angebliche Umstände, die die Annahme jeder dieser Ursachen rechtfertigten; doch waren sie, wie gesagt, so widersprechend, dass keine mit Genauigkeit zu bestimmen war.


Wo Geheimnis ist, wird allgemein auch Böses angenommen: Ob mit Recht, weiß ich nicht; in ihm war das eine gewiss, obwohl ich das andere nicht ermitteln konnte – und es widerstrebte mir, so weit es ihn selbst betraf, an seine Existenz zu glauben. Mein Entgegenkommen fand eine ziemlich kalte Aufnahme; aber ich war jung und nicht leicht zu entmutigen, und es gelang mir endlich, bis zu einem gewissen Grat, jenen Gemeinplatz "Umgang" zu erhalten, jenes mäßige Vertrauen in gewöhnlichen Alltagsverhältnissen, erzeugt und gekittet durch gleiches Treiben und öfteres Zusammentreffen, das man Intimität oder Freundschaft nennt, nach den Begriffen derer, die diese Worte gebrauchen, um Obiges auszudrücken.


Darvell war schon viel gereist; und an ihn hatte ich mich um Belehrung gewandt in Betreff meiner geplanten Reise. Es war mein geheimer Wunsch, dass er bewogen werden möchte, mich zu begleiten, ich gründete diese Hoffnung mit einiger Wahrscheinlichkeit auf die dunkle Rastlosigkeit, die ich in ihm beobachtet hatte, und die Lebhaftigkeit, mit der er fremde Gegenstände aufnahm; die scheinbare Gleichgültigkeit gegen alles, das ihn unmittelbar umgab, verliehen dieser Hoffnung neue Stärke. Ich deutete meinen Wunsch erst an, dann sprach ich ihn aus: Seine Antwort, obgleich ich sie zum Teil erwartet, überraschte mich freudig – er sagte zu; und wir traten nach den notwendigen Vorbereitungen unsere Reise an.


Wir durchstreiften mehrere Gegenden von Südeuropa, dann wandten wir unseren Blick, der ursprünglichen Bestimmung gemäß, nach Osten, und auf meinen Wegen durch jene Gefilde ereignete sich der Vorfall, von dem ich zu berichten habe.


Darvells Konstitution, die seinem Aussehen nach früher ungewöhnlich robust gewesen sein muss, hatte seit einiger Zeit gelitten, ohne das Einschreiten irgendeiner ausdrücklichen Krankheit, er hatte weder Husten noch die Schwindsucht, doch wurde er täglich schwächer: seine Bedürfnisse waren mäßig, er brach weder zusammen, noch beklagte er sich über Anstrengung; doch er zehrte sichtlich ab, wurde immer stiller, konnte nicht mehr schlafen, und er veränderte sich zuletzt so, dass meine Besorgnis mit seiner Gefahr wuchs.


Wir hatten bei unserer Ankunft in Smyrna einen Ausflug nach den Ruinen von Ephesus und Sardes beschlossen, von dem ich ihn in seinem gegenwärtigen Unwohlsein abzuraten versuchte – jedoch vergebens: sein Geist schien bedrückt zu sein, es lag in seinem Wesen etwas Feierliches, das schlecht zu dem Eifer passte, mit dem er die Lustreise, die für einen Kranken nicht geeignet war, ergriff. Endlich widersetzte ich mich nicht länger, und wenige Tage darauf reisten wir ab, nur von einem Serrödschi und einzigen Janitscharen begleitet.


Wir hatten den halben Weg nach den Überbleibseln von Ephesus zurückgelegt, die fruchtbaren Gegenden um Smyrna lagen bereits hinter uns, und den wilden, öden Pfad durch die Moräste und Engpässe betreten, der zu den wenigen Hütten führt, die noch über Dianas zerbrochenen Säulen stehen – die dachlosen Mauern des von hier vertriebenen Christentums und der noch späteren, aber vollständigen Zerstörung der verlassenen Moscheen -, als uns das plötzliche Übelbefinden meines Begleiters nötigte, bei einem türkischen Totenacker haltzumachen, dessen beturbante Grabsteine das einzige Zeichen waren, dass jemals Menschenwesen in dieser Wildnis gehaust hatten. Die letzte Karawanserei, die wir gesehen, lag mehrere Stunden hinter uns, nicht die kleinste Spur eines Dorfes oder nur einer Hütte war zu erblicken oder zu erhoffen, und diese "Totenstadt" schien die einzige Zuflucht für meinen unglücklichen Freund, der nahe daran war, ihr letzter Bewohner zu werden.


In dieser Lage sah ich mich nach einer Stelle um, wo er am bequemsten ausruhen konnte: - Zypressen standen hier, gegen den gewöhnlichen Anblick mohammedanischer Begräbnisstätten, nur in geringer Zahl und dünn über den ganzen Friedhof verteilt, die Grabsteine meist versunken, vor Alter verwittert! Auf einen der ansehnlichsten, unter den Baum, der den meisten Schatten gab, ließ sich Darvell mit großer Anstrengung in halb liegender Stellung nieder. Er forderte Wasser. Ich hatte einigen Zweifel, dass es uns gelingen würde, welches zu finden, und schickte mich zögernd und niedergeschlagen an, danach zu suchen; aber es hieß mich bleiben und, indem er sich zu Suleiman wandte, unserem Janitscharen, der mit großer Seelenruhe rauchend dabeistand, sagte er: "Suleiman, verbana su" (d.h. "hole Wasser"), und beschrieb den Ort, wo es zu suchen war, mit großer Genauigkeit, als einen kleinen Springbrunnen für Kamele, wenige hundert Schritte rechts. Der Janitschar gehorchte. Ich fragte Darvell: "Woher wissen Sie das?" – Er antwortete: "Durch unsere Umgebung. Sie müssen bemerken, dass dieser Ort einst bewohnt war und deshalb Quellen haben muss. Auch ich bin schon einmal hier gewesen."


"Sie sind hier schon gewesen" – Warum haben Sie das mir gegenüber nie erwähnt? Und was konnten Sie an einem Ort zu tun haben, wo niemand länger bleiben würde, als er unbedingt muss?"


Auf diese Fragen erhielt ich keine Antwort. Inzwischen kam Suleiman mit dem Wasser zurück, er hatte den Serrödschi und die Pferde an der Quelle gelassen. Als Darvell seinen Durst gestillt hatte, schien ihm ein Moment die Lebenskraft wiederzukehren; und ich fasste Hoffnung, dass er imstande sein werden, weiter oder doch wenigsten zurück zu reiten, und ich brachte das vor. Er schwieg – und schien seine Geister mit Anstrengung zum Reden zu sammeln. Er begann:


"Dies ist das Ende meiner Reise und meines Lebens; - ich kam hierher, um zu sterben, doch habe ich eine Bitte, einen Befehl, denn bei meinen letzten Worten handelt es sich um das. – Werden Sie die erfüllen?"

"Ganz gewiss, doch noch hoffen Sie."

"Ich habe weder Hoffnung, noch Wünsche, nur dies: Verheimlichen Sie meinen Tod vor jedem menschlichen Wesen."

"Ich hoffe, das wird nicht nötig sein. Sie werden sich erholen und..."

"Still! Es muss sein. Versprechen Sie’s mir."

"Ich tu’s."

"Schwören Sie, bei allem, was..." Hier schrieb er mir einen höchst feierlichen Eid vor.

"Das ist nicht nötig. Ich will Ihr Begehren erfüllen; setzen Sie Zweifel in mich, so..."

"Es geht nicht anders, Sie müssen schwören."

Ich leistete den Eid, es schien ihn zu erleichtern. Er nahm einen Siegelring vom Finger, auf dem ein paar arabische Charaktere standen, zeigte ihn mir und fuhr dann fort:

"Am neunten Tag des Monats, genau um Mittag (den Monat können Sie bestimmen, nur der neunte Tag muss es sein) müssen Sie diesen Ring in die Salzquellen werfen, die in die Bai von Eleusis fließen. Tags darauf, zu selben Zeit, müssen Sie sich in die Ruinen des Tempels der Ceres begeben und eine Stunde warten."

"Warum?"

"Das werden Sie sehen."

"Am neunten Tag eines Monats, sagen Sie?"

"Am neunten."


Als ich merkte, dass heute der neunte sei, veränderten sich seine Züge, und er schwieg. Während er nun da saß und augenscheinlich immer schwächer wurde, setze sich ein Storch, mit einer Schlange im Schnabel, auf einen nahen Grabstein und schien uns starr anzublicken, ohne seine Beute zu verschlingen. Ich weiß nicht, was mich veranlasste, ihn zu verjagen, aber es war umsonst; er machte ein paar Kreise in der Luft und kehrte genau wieder an dieselbe Stelle zurück. Darvell zeigte auf ihn und lächelte: er sprach – ich weiß nicht, ob vor sich oder zu mir-, aber die Worte waren nur: "Es ist gut!"

"Was ist gut? Was meinen Sie?"

"Gleichviel: Sie müssen mich heute abend hier begraben, genau wo der Vogel jetzt sitzt. Alles übrige wissen Sie."
Dann fügte er noch mehrere Anweisungen hinzu, wie sein Tod am besten geheimzuhalten sei. Nachdem er damit fertig war, rief er: "Sehen Sie diesen Vogel?"

"Gewiss."

"Und die Schlange, die sich in seinem Schnabel windet?"


"Finden Sie das ungewöhnlich? Es ist seine natürliche Beute. Aber eigenartig, dass er sie nicht frisst."

Er lächelte auf grauenhafte Weise und sage, schwach: "Es ist noch nicht Zeit!" Als er das sagte, flog der Storch weg. Meine Augen folgten ihm einen Moment, kaum so lange, dass man bis zehn zählen konnte, da fühlte ich Darvells Last schwer auf meiner Schulter, und als ich mich umwandte, sein Antlitz zu sehen, war er tot.


Ich erschrak über die plötzliche Gewissheit, an der nicht zu rütteln war – sein Gesicht wurde in wenigen Minuten fast schwarz. Ich würde die so schnelle Veränderung Gift zugeschrieben haben, wenn ich nicht gewusst hätte, dass er es nicht unbemerkt empfangen konnte. Der Tage neigte sich, die Leiche veränderte sich immer mehr, und es blieb nichts übrig, als den Wunsch zu erfüllen.


Mit Suleimans Yataghan und meinem eigenen Säbel schaufelten wir ein flaches Grab an der Stelle, die Darvell bezeichnet hatte; die Erde wich leicht, da sie schon manchen mohammedanischen Bewohner aufgenommen hatte. Wir gruben so tief, als es uns die Zeit erlaubte, und warfen die lose Erde auf das, was von dem seltsamen Wesen übrig war, das so kürzlich hinübergegangen, dann stachen wir ein paar grüne Rasenstücke aus und legten sie auf sein Grab.

Zwischen Verwunderung und Gram, meine Augen blieben trocken.