Abwarten...

 

Am Abend saß Jessica auf ihren Bett und fühlte sich hundeelend. Die Erkältung kam drückend

näher und das gefiel ihr gar nicht. Sie hatte noch einmal bei ihrem Redakteur angerufen

und auf dem anonymen Anrufbeantworter hinterlassen, sie würde morgen früh nach dem

Frühstück fahren. Vielleicht auch nicht. Sie hatte angedeutet, vielleicht doch auf etwas

interessantes gestoßen zu sein. Neben ihrem Bett stand heißer Tee. Der Pensionswirt hatte ihn

erfreulicher Weise gebracht. Dankend hatte Jessica angenommen. Denn wenn sie sich

erkälten sollte, würden zuerst die Mandeln anschwellen. Damit hatte sie immer Probleme.

Also stieg sie ins Bett, deckte sich zu und drehte das Licht aus. Irgendwann glitt sie in sanften

Schlummer. Und erwachte kurz darauf wieder. Irgend etwas hatte sie geweckt. Irgend etwas

in ihren Träumen. Etwas das ihr gar nicht gefallen hatte. Jessica brauchte ein paar Sekunden

um sich zu orientieren, knipste die Nachttischlampe an und bemerkte, wie sie fror. Schweiß

lag kalt und unangenehm auf ihren Körper. Das Nachthemd klebte nass und unangenehm auf

ihr. Erste Spuren der Erkältung?.

Sie zog das Nachthemd aus und ein langes T-Shirt über. Das frieren blieb. Auch als sie wieder

im Bett lag. Es dauerte lange bis sie wieder einschlief. Oftmals wälzte sie sich von einer Seite

auf die anderen. Bis endlich der erste, leichte Schlummer wieder kam. Doch auch dieser

Schlaf war unruhig. Ihre Gedanken wirbelten durcheinander und im Traum sah sie sich

wieder in dem Haus des Alten. Und wieder schlug Jessica die Augen auf. Und wieder war sie

über und über mit Schweiß bedeckt. Leise fluchend erhob sie sich und sah auf die Uhr. Keine

Stunde später nach dem ersten Aufwachen.

Sie streckte sich und Bilder des Traumes zogen an ihr vorbei. Das Gesicht des Alten, die

Fotos, ihr Foto! Sie fühlte sich unbehaglich bei den Gedanken auf Papier verewigt zwischen

den anderen, längst vergilbten Fotos zu landen. Der Gedanke war ihr unangenehm. So

unangenehm, das sie noch lange brauchte um wieder einzuschlafen. Doch mehr als ein

Dämmern war es nicht. Immer wieder schreckte sie in der Nacht hoch und immer wieder sah

sie den Alten fast plastisch in Gedanken vor sich. Lächeln mit ihrem Bild in der Hand.

Sie setzte sich auf. Der Reisewecker zeigte kurz nach sechs Uhr. Eine Stunde später verließ

sie die Pension. Leise zog sie die Tür hinter sich zu. Sie würde später wiederkommen um zu

zahlen. Vorher wollte sie aber noch etwas erledigen. Sie trug wieder ihren Mantel und wieder

war es trotzdem zu kalt. Müde steckte sie den Schlüssel ins Schloss ihres Wagens, stieg ein

und sah sich wieder im Spiegel. Es war als durchzucke sie ein Blitz. Mit einem Mal war sie

klar und wach. Sie fragte sich, was sie hier tat?

Was sollte das ganze. Was wollte sie morgens um Sieben hier im Wagen. Doch dann drehte

ihre Hand wie automatisch den Zündschlüssel, legte den Gang ein und ihre Füße berührten

das Gas. Langsam fuhr sie an. Sie wollte nicht aber sie fuhr die Strecke, die sie in den letzten

beiden Tagen schon ein paar Mal gefahren war. Vorsichtig lenkte sie den Wagen auf den

Feldweg, bugsierte um bekannte Schlaglöcher herum und war nach zwanzig Minuten am Ziel.

Kalt und dunkel lag das Haus des Alten vor ihr. Und sie saß im Wagen und begann an ihren

verstand zu zweifeln.

Was in aller Welt wollte sie hier. Um diese Zeit?

Ihr Foto abholen!

Warum?

Jessica sah durch die Scheiben in die Dunkelheit. In gut einer Stunde würde es erst hell

werden. Wenn überhaupt richtig. Denn die dicken Wolken des Vorabends brachten erste,

einzelne Schneeflocken.

Sie saß in ihren Wagen und blickte durch die Scheiben. Sie verstand nicht einmal richtig, was

sie hier tat. Sie sah nur zum Haus. Licht flammte auf. Jessica zuckte zusammen. Es war fast,

als hätte das Haus auf sie gewartet. Nein, sie berichtigte sich. Nicht das Haus. Er.

Der Alte. Gänsehaut kroch über ihren Körper. Sie lachte leise und rauh auf. Das war doch

alles Wahnsinn, was sie hier tat.

Aber sie stieg aus.

Jetzt wollte sie es wissen!

Es überraschte sie nicht einmal mehr, das die Haustür offen stand.

Wie eine stumme Einladung...

Sie ging auf das Haus zu. Licht brannte hinter einen der Fenster. Der Alte war also schon

wach. Vielleicht hatte sie ihn geweckt. Oder er hatte tatsächlich auf sie gewartet. Oder er

stand viel viele der Menschen hier mit dem ersten Hahnenschrei auf. Langsam ging sie auf

das Haus zu und blieb kurz davor stehen. Es kostete sie Überwindung aber sie schaffte es

weiter. Kalte Luft wehte um sie herum, Schneeflocken tanzen in ihr Gesicht. Das war alles

Unsinn. Sie hatte schlecht geschlafen. Und nun war sie hier und wollte ihr Foto wieder haben.

Und das nur, weil ihr der Gedanke unangenehm war wie er es betrachten könne, das seine

schlanken Hände darüber gleiten würden.

Kurz schossen Bilder und Gedanken durch ihren Kopf; Gedanken an Erzählungen über

Indianer und Menschen der frühesten Pionierzeit der Fotografie: Viele hatten geglaubt mit

ihrem Bild fange der Fotograf auch einen Teil ihrer Seele aus. Nicht wenige der fotografierten

hatten daraufhin übersensibel reagiert. Jessica lächelte still in sich hinein. So manches blondes

Fotomodell der Hochglanzmagazine dürfte dann überhaupt keine Seele mehr besitzen.

Sie schalt sich wieder eine Närrin und schob alle Gedanken auf die Erkältung und schlechte

Nacht. Sie drehte sich um und sah ihren Wagen an. Andererseits war sie nun hier und hatte

vielleicht die letzte Chance mit dem Alten zu reden.

Die letzte Chance, wie das in ihren Gedanken klang!

Sie lachte wieder rau auf. Gleich darauf verstummte sie. Jessica fragte sich ob sie wirklich

langsam verrückt wurde. Sicher der Alte brachte sie durcheinander. Aber dies alles hier war

schon ein bisschen "strange". Aber das passte zu ihr. Sie war schon immer für ihre

extravaganten Lösungen und Ideen bekannt gewesen. Sie nannte es Eingebung.

*

Und hinter ihr stand der Alte am Fenster und sah auf ihre zierliche Gestalt, die sich gegen

Wind und Schnee stemmte. Er lächelte wieder sein kaltes Lächeln. Noch wehrte sie sich. Aber

das taten sie alle zu Beginn. Schon immer. Und doch würde sie verlieren. Wie alle vor ihr

ebenfalls verloren hatten!

Sie verloren immer...!

*

Draußen in der Kälte spürte Jessica ein brennendes Gefühl im Rücken. Sie drehte sich herum

und sah den Schatten des Mannes im Fenster. Also hatte er sie gesehen. Kurz blieb sie stehen

und sah auf die Gestalt hinter dem Fenster. Einen Augenblick später riss sie sich zusammen.

und marschierte auf dessen Tür zu. Sie klopfte. Ihr wurde geöffnet. Der Alte stand vor ihr und

die letzten Reste an Selbstsicherheit stürzten so schnell in ihr zusammen wie ein Kartenhaus

im Sturm.

"Hallo..." sagte er nur und hielt ihr die Tür auf. Jessica trat ein. "Ein bisschen zu früh am

Morgen für einen Besuch, oder...?" hörte sie seine schnarrende Stimme. Jessica sah ihn

wieder an. War da wieder diese Spur triefender Ironie? Fast war es, als wusste er, was sie

wollte.

Die seltsame Wand der Angst baute sich wieder in ihr auf. Der Alte war ihr unheimlich. Und

sie stand hier in seinen Flur und wusste nicht, was sie sagen sollte. Und der alte Mann lächelte

nur sein fast diabolisches Lächeln...

Der Flur war dunkel und so konnte sie ihn mehr schemenhaft erahnen denn wirklich

erkennen. Und er stand einfach nur da und wartete auf eine Reaktion von ihr. "Ich weiß selbst

nicht einmal, warum ich hier bin...!" sagte sie nur. Der Schatten bewegte sich.

War es ein Nicken?

"Das dachte ich mir..." hörte sie nur. Und die Stimme klang seltsam tief, anders als noch vor

Augenblicken...

Fremdartig...!

Die Angst wühlte sich durch ihren Körper und vertrieb sogar die Kälte. Aber das Zittern blieb.

Sie erwartete eine Handlung des Mannes und wurde nicht getäuscht. Er ging an ihr vorüber, in

Richtung des Wohnzimmers. Sie hörte keinen Schritt von ihm. Auch dann nicht, als er über

die knarrenden Bohlen schritt. Aber das registrierte sie nur ohne sich weitere Gedanken

darüber zu machen. Er kannte sein Haus eben.

Und so folgte sie ihm stumm in das erleuchtete Wohnzimmer...

Ihre Schritte knarrten und das Geräusch kam ihr in der Stille überlaut vor.

Hellerer Schein strahlte aus dem Wohnzimmer, ihr entgegen. Dort erwartete er sie und

lächelte. Sein Lächeln war wieder kalt. Es erreichte diese seltsamen, blauen Augen nicht. Fast

war es böse.

Diabolisch...

Bestialisch...

Sie sah sich um und erkannte auf dem Regal zwischen den vielen Fotos ihr eigenes. Mit

großen Augen sah sie in die Kamera. Mit zwei Schritten war sie bei ihm, streckte die Hände

aus und traute sich doch nicht, es zu berühren. Der Alte war neben ihr. Jessica wirbelte

herum. Lautlos war er neben ihr getreten. "Es ist schön, nicht...?" fragte er. "Schön wie sein

lebendes Ebenbild...". Und zum ersten Mal glaubte Jessica ein Gefühl in seinen Augen zu

erkennen.

Eine Verliebtheit in das Foto.

Sie nickte nur stumm.

Dann sah er sie wieder an. Und wieder waren da seine Augen. Blau. Tief und ohne Grund.

Plötzlich schwindelte ihr. Sie fühlte sich hundeelend

"Ja, sie kommen immer wieder um ihre Bilder zu holen. Das war schon immer so...!".

Er drehte sich und seine Arme deuteten auf die zahlreichen Ölbilder. Jessicas Blick folgte

ihm. Die Bilder zeigten Menschen. Personen. Und sie wirkten echt. Fast so, als würden die

gezeichneten Personen sie direkt ansehen. Doch alles passte nicht ins Bild. Besser gesagt die

Personen passten nicht zusammen: Es schien keine Ahnengalerie oder Familie zu sein. Ein

Bild zeigte einen Mann mit einem Helm auf dem eine hohe Spitze zu sehen war. Ein Soldat

mit Pickelhaube. Ein anderes zeigte eine junge Frau im weißen Kleid. Wie ein Brautkleid. Ein

anderes eine rothaarige Schönheit in einem dunklen Kleid. Sie saß auf einen Stuhl, das Kleid

war höher gerutscht und zeigte ihre Knie. Die Füße steckten in dunklen Lederstiefeln mit viel

Schlaufen und Ösen wie sie im letzten Jahrhundert modern gewesen sein mochten.

Jessica trat zu den hohen Bildern und hörte die unangenehme Stimme des Mannes hinter ihr

fast zärtlich flüstern: "Sie sind schön, nicht...?!". Es war Frage und verliebte Feststellung in

einem.

Jessica konnte nur nicken. Schön war untertrieben. Sie verstand nichts von Kunst. Aber die

Bilder waren wunderbare Arbeiten. Es stimmte auf ihnen jedes Detail. Jede Falte in den

Gesichtern, jede einzelne Wimper war gemalt wurden. Die Ölfarbe schien den Eindruck noch

mehr zu verstärken. Sogar die Farbe der Augen war zu erkennen. Hier musste ein wahrer

Künstler am Werk gewesen sein. Vielleicht sogar der Alte selber. Es schien fast als würden

die Bilder leben. Die Augen schienen sie tatsächlich zu mustern und das frösteln ihres Körper

verdeutlichte diesen Effekt noch.

Sie drehte sich schnell wieder zu ihm und in sein kaltes Grinsen. "Was sind das alles für

Leute...?" fragte sie. Und er lachte leise und rau. Und das Lachen machte ihr Angst. Irgend

etwas in ihr zerrte sich frei, schrie ihr etwas zu aber sie hörte nicht darauf. Der andere Teil

von ihr, der angehende Reporter brach hervor. War der Alte ein verrückter Maler, der

Menschen zeichnete oder fotografierte und das täuschen echt?

Aber warum?

Sie musterte ihn. Sicher, er war ihr auf eine unbestimmte Weise unheimlich. Aber sie glaubte

nicht, das er eine echte Gefahr darstellte. Schon gar nicht für die ganzen Menschen auf den

Bildern und Fotos.

Plötzlich sah der Alte sie nur an. Stumm. Und doch schrie sie etwas an.

"Du willst wissen, was das für Leute sind?" fragte er lauernd.

Jessica nickte nur stumm. Doch irgendwie wollte sie das plötzlich gar nicht mehr.

Sie spürte, irgend etwas stand bevor. Und sie war sich auf einmal unsicher darüber, ob sie es

wirklich wissen wollte.

Der Alte sah sie ein paar Sekunden an. Und wieder hatte sie das Gefühl, er konnte jedes

Gefühl, jeden Gedanken und jede Regung in ihr lesen wie ein offenen Buch. Dann ein

Lächeln um seine Lippen. Kalt und irgendwie grausam. Es gefiel ihr gar nicht. Aber da war

wieder dieser starke, drängende Teil in ihr. Der Teil, der immer alles wissen musste.

Und der Alte drehte sich herum, hob seine Hand. Er krümmte seinen Zeigefinger und sie

folgte ihm. Jessica wusste nicht einmal mehr, warum aber sie tat es. Mit unsicheren Knien

und seltsamer Angst im Rücken.

Er führte sie zum Flur. Dort blieb er stehen und drückte eine Tür auf. Eine Treppe führte nach

unten. Seine Hand glitt über die Wand und fand den Lichtschalter. Er drehte ihn und

schwaches Licht flammte auf. Jessica sah ihn mit großen Augen an. Und dann kam die Angst

mit einer Wucht, die sie zurücktaumeln ließ. Sie wollte nicht in den Keller. Sie wollte nur aus

diesen Haus hinaus.

Mit unsicheren Schritten torkelte sie an der ihr gegenüberliegende Wand. Die Welt um sie

herum drehte sich und schwankte beunruhigend. Jessica wollte raus aus diesem Haus. Weg

von dem Keller, weg von dem Alten. Doch ihre Beine gehorchten nicht. Sie knickten ein und

langsam sackte Jessica an der Wand herunter. Ihr Mund stand weit offen und der Atem raste.

Ihr Herz pumpte und für sie war es so, als würde ihr Brustkorb bersten. Auf einmal bekam sie

keine Luft mehr. Ihre Hände wurden kalt.

Und vor ihr stand nur der Alte und lächelte auf sie nieder.

Hart umfasste er ihr Handgelenk und riss ihren Körper in die Höhe. Jessica schaffte es noch

aufzuschreien. Es war fast, als risse er ihren Arm aus dem Gelenk. Wasser schoss in ihre

Augen.

Sie fragte sich, woher er nur diese plötzliche Kraft nahm?

Ein Stoß in ihren Rücken und sie taumelte durch die geöffnete Tür in den Keller. Die Treppe

war kurz, nur vier oder fünf Stufen. Aber das reichte damit sie fiel. Hart schlug sie auf

felsigen Boden auf.

Sterne kreisten bunt durch ihre Gedankenwelt. Sie schmeckte Blut auf ihrer Lippe.

Bis ein neuerlicher Schmerz und Ruck sie wieder in die Höhe riss. Der Alte war erneut bei

ihr. Spielerisch leicht hob er sie in die Höhe.

Übelkeit wallte durch ihren Körper aber darauf nahm er keine Rücksicht. Er drückte sie

unsanft gegen eine Wand. Eine Wand aus breiten Steinen. Sie wollte sich wehren, zumindest

schreien. Aber aus ihrer Kehle kam nur ein leises keuchen. Wo war sie hier nur

hineingeraten?

Vielleicht hatte sie sich in dem alten Kauz ganz gehörig getäuscht.

Sie spürte die Kühle am Rücken und sah sich um. Das Licht einer einzelnen Birne erhellte

einen Keller. Einen Keller aus groben Steinen, die fast millimeterdicht zusammensaßen.

Große Quader in einem ansonsten sandigen Gebiet?

Aber das nahmen ihre Gedanken nur zur Hälfte war. Wie auch den Alten, der dicht an sie trat.

Seine Hand fuhr durch ihre rückenlangen, blonden Haare. Aber er sagte keinen Ton. Stumm

blickte er sie nur an. Und dieser Blick peitschte die Angst in ihr in die Höhe. Es war ein

abschätzender Blick, so als betrachte er eine leblose Ware und keinen Menschen. Aber Jessica

war unfähig sich zu bewegen. Und wieder grinste er. Als wüsste er, was sie fühlte.

„Gefällt dir mein Keller?“ fragte er leise und ihr schwindelte. Alles drehte sich und große

Übelkeit wallte durch ihren Körper.

"Du willst wissen, was das für Personen sind?" fragte er noch einmal. Und seine Stimme

klang tief. Zu tief und irgendwie seltsam. Dann ein Lachen von ihm. Leise, kichern dann

immer mehr anschwellend und schließlich war es irr und ein einziger, kreischender Laut.

Unmenschlich...

Fremd...

Jessicas Augen waren weit aufgerissen. Ihre Gedanken wirbelten. Der Alte war von Sinnen.

Ganz bestimmt! Sie hatte schon von solchen Leuten gehört. Verrückte, Wahnsinnige. Leute

die andere Leute ermordeten und in ihrem Haus verscharrten. Leute die nach außen hin ganz

normal erschienen.

War der Alte auch so einer?

War er es, der hinter allem steckte? Wieder meldete sich der fragende Teil von ihr und sie

verfluchte ihr inneres.

Was auch immer hier gerade passierte, sie wollte es nicht und konnte sich nicht dagegen

wehren.

Was auch immer der alte Mann getan hatte, sie steckte mitten darin...

*

Urplötzlich stoppte sein irres Lachen. Dafür kam wieder sein Blick. Und der bohrte sich durch

sie hindurch. Jessica stöhnte auf und sackte zusammen. Mit einem Schritt war der Alte bei ihr.

Seine Stimme klang tief, kehlig und fast wie nicht von ihm selbst. "Du willst wissen?" fragte

er und rüttelte die junge Frau an den Schulter. Dann wich er vor ihr zurück. "Dann sieh..." rief

er und ein Stück der Mauer knickte ein. Er lehnte sich dagegen und ein Teil der rauen Steine

klappte zur Seite weg. Jessica wollte lachen und konnte nicht einmal das. Eine Geheimtür.

Sicher. Was käme als nächstes?

Spinnweben?

Eine Folterkammer?

Ihr ängstlicher Geist gaukelte bunte Bilder vor und endlich lachte sie los. Laut und rau. Sie

lachte bis der Schlag des Alten sie stoppte. Mit solch einer Wucht, das ihr Kopf herumflog

und gegen die Mauer prallte. Jessica sah erneut bunte Sterne tanzen und schwarze Wolken

wabern. Zusätzlich spürte sie einen warmen Geschmack im Mund. Ihr Blut. Der Schlag des

Alten hatte sie an der rechten Wange getroffen. Die schmerzte höllisch. Aber die Schmerzen

hatten ihr gutes. Jessica sah den Mann dicht vor sich. Sie handelte instinktiv. Endlich! Der

Schmerz riss etwas in ihr aus der seltsamen Lethargie...

Vielleicht nicht sehr effektiv aber überraschend für ihn. Ihre Hände zuckten vor, schlugen

dem Alten ins Gesicht. Zweimal traf sie ihn. Es war einfach eine Reaktion auf ihre Angst, auf

das was fast unwirklich um sie herum vor sich ging.

"Da..." rief sie und hieb ein weiteres Mal zu. Jessica hatte sich nie geschlagen oder nur die

geringste Ahnung von Technik oder Boxen. Sie ballte einfach nur die Hände zu Fäusten und

schlug zu. Mit ihrer ganzen Kraft, auch wenn das nicht viel sein mochte.

Sie traf die Wange des Mannes. Die haut fühlte sich seltsam dünn an. Dahinter war etwas

hartes, das schmerzte. Sein Knochen!

Jessica schrie auf. Ihre Fingernägel hatten sich beim dem dritten und letzten Hieb tief in das

Fleisch ihrer Hände gegraben. Doch der Alte stand nur da und lächelte. Und Jessica sah ihn

mit größer werden Augen an. Er wankte nicht einmal. Ihre Gedanken setzten wieder ein. Er

müsste zumindest zurücktaumeln, wanken oder bluten. Sie trat zu. Ihr Fuß traf die braune

Hose des Mannes und dessen Schienenbein dahinter. Keine Entgegnung, kein

Schmerzenslaut, keine Reaktion.

Die kam eine Sekunde später. Er schlug einfach aus dem Stehen zu. Der Schlag kam von

unten nach oben und riss Jessica um, fast von den Beinen. Wieder prallte sie gegen die Wand

und dann zu Boden. Die roten Sterne wurden bunter, das Dunkel schwärzer. Alles explodierte

um sie herum und ging dann in ein schwarz unter. Ihre Gedanken überschlugen sich, zeigten

nur bunte Bilder, ein einziges Motiv: Das Gesicht des Alten, sein Lachen.

Dann war Ruhe und die Ohnmacht hatte sie gnädig umhüllt.

*

Als sie wieder zu sich kam, spürte sie einen extremen Schmerz im Arm. Der Alte zog sie

hinter sich her. Sie fand sich im Durchgang des Ganges wieder, konnte also nur Sekunden

ohnmächtig gewesen sein. Aber das reichte. Lang lag sie auf den Boden. Ihr rechter Arm hing

in der Höhe und die Hand des Alten umklammerte ihn so fest wie ein Schraubstock. Jessica

stöhnte auf als er sie wieder zwei Schritte nach vorne zog.

"Aha, mein Täubchen ist also wach..." hörte sie die Stimme. Es musste seine sein, aber sie

klang tief, kehlig und unheimlich und gänzlich anders. Wie von einer anderen Person.

Jessica versuchte sich abzustützen, doch sie schaffte es nicht. Über festen Lehmboden wurde

sie gezogen, hinter der breiten Tür aus Stein über drei Stufen. Hart schlug ihr Körper gegen

jede einzelne und der dumpfe Schmerz wurde stechend, trieb Tränen in ihre Augen. Noch

einmal versuchte sie sich gegen den Griff des Alten zu stemmen. Doch der zog unerbittlich

und Jessica brach sich nur schmerzhaft die Fingernägel ab. Hart prallte ihr Körper über die

Stufen und landete endlich auf einen staubigen, harten Boden. Aus Stein.

Jessica war zu kraftlos, sich abzustützen. Es waren Stufen aus Holz, gewesen aber für sie so

hart wie der Stein auf dem sie nun lag. Ihr Knie war gegen eine der Stufen geprallt und bittere

Übelkeit wallte erneut heran.

Als der Alte Jessicas Körper nach ein paar Metern zu Boden gleiten ließ, blieb sie regungslos

liegen. Ihre Lungen pumpten Luft in sie hinein und ihr ganzer Körper kämpfte gegen

Schmerz, Übelkeit und Ohnmacht. Ihre Lippe war an drei Stellen aufgeplatzt, ihre rechte

Augenbraue ebenfalls. Blut lief warm und unangenehm über ihre Haut. Und jeder Knochen in

ihrem Körper schmerzte. Das rechte Knie war ein einziges Zentrum aus schmerzenden

Explosionen. Ihr Kopf fühlte sich an wie in Watte gepackt und sie hatte deutliche Mühe einen

klaren Gedanken zu fassen. Jessica erkannte nur, das sie im dunkeln lag. Und das es kalt war.

Kalt und dunkel.

Die Angst kam wieder!

Sie wusste nicht, wo sie war und was der Alte mit ihr vorhatte. Es war nichts mehr von ihm zu

hören. Jessica drehte den Kopf. Es war Dunkel. Absolut dunkel. Kein Licht, keine Umrisse

nur totale schwärze. Und die fraß sich in ihren Körper. Die Übelkeit wurde stärker und dunkle

Schatten der neuen Ohnmacht hielten sie umfangen...

Einsamkeit...

Erbarmungslose Kälte ließ sie aufwachen. Das erste war der Schmerz. Das zweite war die

Dunkelheit. Weit riss Jessica ihre Augen auf und hatte für Sekunden Angst erblindet zu sein.

Panik kam und riss sie mit sich. Kein Licht, sie war blind...

Sie tastete nach ihren Augen, keine Binde, keine Maske.

Doch die Dunkelheit blieb. Ihr Atem raste, sie spürte Panik. Ihre Hände glitten über den

rauen, staubigen Boden. Ihre Zähne klapperten vor Kälte. Und der Schmerz ihrer Wange

brach wieder durch. Dann kam die Erinnerung. Langsam aber bestimmt. Und mit der

Erinnerung kam Panik und Angst. Jessica konnte sich mit äußerster Mühe in eine sitzende

Position bringen. Eine kalte Mauer drückte in ihren Rücken. Sie presste sich dagegen und zog

die Beine an. Sie versuchte so still wie möglich zu sein. Ihr Kopf flog von einer Seite auf die

andere. Doch es herrschte absolute Schwärze. Sie fror und zitterte am ganzen Körper, konnte

kaum die Finger bewegen. Es war hier eiskalt.

Kein Wunder, wenn sie bedachte, wo sie sich befand. Sie war überhaupt froh noch denken zu

können. Der Alte hätte in der Zeit ihrer Ohnmacht sonst etwas mit ihr machen können.

Der Alte...

Die Panik wurde stärker. Irgend etwas stimmte mit dem ganz und gar nicht. Jessicas Lippen

bebten und schließlich schrie sie auf. Laut, gellend und lange. Doch keine Reaktion oder

Antwort erfolgte. Sie schrie bis sie heißer wurde. Dann trommelte sie gegen die Mauer hinter

ihr bis die Hände schmerzten und bluteten.

Lachend sackte sie schließlich zusammen. Sie lachte bis ihr endlich die Stimme wegblieb und

der Körper keine Luft mehr bekam. Es war ein irres Lachen das schmerzte. Aber sie konnte es

einfach nicht lassen...

Die Zeit verging und obwohl alles in ihr glaubte sterben zu müssen fing sie sich wieder. Es

kam ganz automatisch. Zuerst fragte sie sich, wo sie war, wie alles passiert war. Als die

Bilder in ihren Kopf abliefen und sich endlich wieder ordneten, wusste sie, das sie nicht

verrückt war. Hysterisch vielleicht, aber nicht Verrückt. Nicht mehr oder noch nicht.

Undeutlich erinnerte sie sich an die letzten Minuten. Oder waren es bereits Stunden

geworden? Die Uhr an ihrem rechten Handgelenk nützte ihr nichts. Es war ein Geschenk

gewesen. Ein teures Geschenk aus Gold. Aber dieses teure Geschenk besaß nicht einmal Licht

oder nachleuchtende Ziffern. Wütend schlug sie mit dem Handgelenk auf den Boden und

hörte das leise Bersten des dünnen Glases.

Sie hatte keine Ahnung, wie spät es war, welche Tages oder Nachtzeit, Vielleicht hatte sie

Stunden ohnmächtig hier in diesem Raum gelegen. Vielleicht auch nur Minuten. Schmerz

mischte sich mit Hunger und der Kälte. Doch der Schmerz gewann.

Noch...

Das schlimmste war, das sie nicht einmal wusste, wo sie sich befand. Es konnte nur ein

kleiner Raum sein aber auch ein riesiges Gewölbe?

Eine Gruft?

Sie lachte laut auf. Das war wenigstens passend. Vielleicht lagen nur Meter entfernt die

schrecklichsten Überreste andere, neugieriger junger Damen und starrten sie an. Wieder ein

kurzes Lachen. Jessica lauschte dem Klang ihrer Stimme. Er klang gedrückt doch auch so

konnte sie die Größe des Raumes nur erahnen. Mit zitternden Händen fuhr sie sich durch das

Haar. Sie war froh, das sie immer noch den Mantel trug. So konnte sie ihren zitternden Körper

wenigstens etwas vor der Kühle des kalten Steines unter und neben ihr schützen.

Doch das schlimmste war die Ungewissheit. Sie wusste nicht, was der Alte mit ihr vorhatte,

doch ihr Kopf malte die schrecklichsten Bilder aus. Mit aller verbliebenen Macht zwang sie

sich an etwas anderes zu denken. An ihre Situation zum Beispiel. Wo sie war und wie groß ihr

Gefängnis sein konnte. Vielleicht gab es einen Lichtschalter oder die Klinke einer Tür. Oder

ein Fenster, eine Luke oder irgend etwas anders. Vielleicht eine Waffe? Ein Spaten, nein

besser eine Axt? So etwas war doch immer in Kellern oder? Vielleicht konnte sie dem Alten

den Schädel einschlagen.

Jessica lachte wieder leise bei der Vorstellung.

Zeit verging.

Die Dunkelheit bedrückte sie so, das sie kaum sagen konnte wie viel Zeit. Und der Hunger

wurde stärker. Ebenso das Brennen im Hals vom Schreien. Ihre Wunden schmerzten.

Vorsichtig hatte sie die Stellen abgetastet und schnell die Finger zurückgezogen. Ihr rechtes

Auge war geschwollen. Das schmerzte am meisten.

Bedrückend war auch die Stille. Keine Geräusche. Einfach nichts!

Schließlich und irgendwann drückte Jessica sich in die Höhe. Als sie stand, schwindelte ihr

und sie musste ein paar Mal tief durchatmen. Sie musste endlich wissen wo sie sich befand.

Auch wenn sie Angst davor hatte, was sie noch in der Dunkelheit finden würde. Aber

andererseits hatte sich der Alte nicht wieder gezeigt. Vielleicht würde er sie hier einfach

verhungern lassen. Wie vielleicht auch die Kinder? Vielleicht schlitzte er sie auch auf,

erschoss sie, schändete sie. Vielleicht nicht einmal alles in dieser Reihenfolge. Und niemand

würde etwas davon erfahren...

Jessica streckte ihre rechte Hand in die Dunkelheit. Da war nichts. Also beschloss sie an der

Wand hinter sich den Raum zu erkunden. Sie glaubte von rechts hereingezerrt wurden zu sein

und versuchte es tastend in dieser Richtung. Vielleicht konnte sie ihrem Aufenthaltsort ja

verlassen, den Alten anzeigen und in der Verhandlung in sein Gesicht spucken. Wenn

wenigstens etwas Licht gewesen wäre. Aber sie war in einem Keller oder sonst wo, unter der

Erde. Absolute Schwärze die bedrückend war. Es war schlimm für Jessica nicht einmal

andeutungsweise etwas sehen zu können. So weit sie die Augen auch aufriss, es herrschte

absolute Dunkelheit. Nichts.

Schritt für Schritt trat sie vor. Dann war gar nichts mehr. Weder hinter noch vor ihr.

Sekundenlang kam die Panik zurück. Sie hatte Angst, in einem unendlichen Nichts zu stehen.

Die absolute Stille und totale Dunkelheit verdeutlichte das Bild nur noch. Schneller stolperte

sie vor und traf mit den weit ausgestreckten Händen endlich auf kühlen Stein. Eine Wand.

Etwas später setzte ihr überreizter Geist alles in eine ungefähre Skizze um.

Sie umrundete den Raum einmal. Es war vielleicht acht Meter im Durchmesser und schien

quadratisch zu sein. Aber es gelang ihr nicht, die steinerne Tür zu finden. Auch keinen Hebel

oder Mechanismus, der sie öffnete. Nur eine weitere Tür ertastete sie am anderen Ende des

Raumes. Eine große Tür. So groß, das ihre ausgestreckten Arme das obere Ende nicht

erreichen konnte. Die Tür war aus dicken Holz. Metallstreben verstärkten sie. Jessica ertastete

sogar das Schloss. Es war ein großes, für einen großen Schlüssel. Sie bückte sich und

versuchte hindurch zu sehen. Wieder nur Schwärze. Nicht einmal ein Luftzug traf ihr Auge.

So blieb ihr nichts anderes über als sich zu setzen und zu Warten. Sie setzte sich mit den

Rücken an die Tür. Das Holz war zumindest nicht ganz so kalt wie der raue Stein überall. Und

so blieb ihr nur das Warten.

Das Warten und die Kälte. Sie konnte ihre Finger kaum noch bewegen, ihr ganzer Körper

zitterte. Rau war ihr Hals und Schmerzen zogen durch ihren Körper...

*

Jessica musste eingenickt sein. Denn ein lautes Geräusch weckte sie. Helles Licht blendete

sie. So stark, das Jessica ihre Hände vor die Augen hielt.

"Hallo..." rief sie. "Ist da wer...".

Ein tiefes, unmenschliches Lachen war ihre Antwort, das dumpf von den Wänden

widerhallte...

Und sofort war da wieder die Angst. Das Licht ebbte ab und Jessica erkannte über sich ein

Licht. Mit einer Handlampe blendete der Alte sie. Mühsam versuchte sie, das grelle Licht mit

den Händen abzuschirmen....

"Na, wie geht es meinem neuesten Stück...?" fragte er lauernd. Und wieder mit dieser seltsam

tiefen Stimme die ihr neuerliche Schauer über den Rücken jagte. Jessica sagte nichts.

Irgend etwas stimmte mit seiner Stimme nicht...!

Dann wieder das schrill anschwellende Lachen des Alten. Er kam dicht zu ihr. Eine Sekunde

wollte Jessica sich auf ihn stürzen doch sie dachte an den letzten Versuch und ließ es. Sie

hätte auch keine Kraft dazu gehabt. Ihr durchkühlter Körper war fast haltlos.

Erst jetzt kamen ihr die Worte des Alten in den Sinn. "Neuestes Stück...!“. Ihr Kopf brauchte

einen Augenblick um das zu realisieren. Was meinte er aber damit? Was es auch war, sie

fürchtete sich vor einer Antwort...

Wieder ein Lachen. Es schien dumpf von überall her zu kommen. Lag es an den Wänden, an

denen sich das tiefe Gelächter brach oder war es wirklich so, das es von über all her auf sie

eindrang...?

Dicht vor ihr blieb der Alte stehen und stellte die Lampe ab. Erst jetzt bemerkte sie, das er gar

nicht mehr lachte, obwohl die Laute noch in ihre Ohren drangen. Fest presste sie ihre

Handflächen an ihre Ohren und schloss die Augen...

Ein Ruck an ihrer Schulter ließ sie wieder aufsehen. Es herrschte absolute Stille.

Abgestandene Luft mit einem seltsamen, fast beißenden Geruch stieg in ihre Nase.

Der Alte über sie beugte sich vor. Sein Gesicht war dicht vor dem ihren. Jessica erschauerte

und spürte wieder die gleiche, massive Angst wie immer, wenn er sie ansah.

"Du wirst es schon sehen..." war seine einzige Antwort.

Dann riss er sie in die Höhe. Jessica gab einen kurzen Schmerzenslaut von sich. Alle Wunden

und Verletzungen schrieen wieder los. Alle auf einmal. Doch ohne Rücksicht schob er sie zur

Seite und drückte ihren Körper gegen die kalte Steinwand. Jessica atmete schneller. Sie war

froh, das die Mauer sie stützte denn so besonders ging es ihr nicht. Schwindel und Übelkeit

teilten sich ihre Aufmerksamkeit und ließen sie fragen, ob nicht eine Gehirnerschütterung

schuld war. Oder schlimmeres...

Der Alte neben ihr holte einen großen Schlüssel hervor. Er war aus grauen Metall, wirkte aber

seltsam und reich verziert. Dann öffnete er die Tür und machte eine einladende Bewegung.

Doch Jessica sträubte sich. Sie wollte nicht hindurch treten. Mit einem Mal wusste sie,

dahinter lag etwas, was sie nicht sehen wollte. Irgend eine unbestimmte Angst oder

Vorahnung sagte ihr, es wäre besser alles zu tun, nur nicht das.

Doch der Alte griff zu. Fest umfasste er ihr Handgelenk, zog sie mit einem Ruck an sich und

stieß ihr dann auf die Brust. Rückwärts taumelte sie durch die Tür und schlug lang hin. Ihr

Versuch den Aufprall abzufangen war nahezu sinnlos. Dumpf prallte sie auf steinigen Boden

und alles fing erneut an in roten Schlieren zu versinken. Doch nur Sekunden, dann war der

Alte wieder bei ihr. Schnell war er, viel zu schnell für seine Erscheinung. Er griff nach ihren

Haaren und riss sie in die Höhe. Wasser schoss in Jessicas Augen und ihr Körper bäumte sich

auf. Mühsam schraubte sie sich in die Höhe.

Wieder ein Stoß. Diesmal an die Schulter und Jessica schaffte es sogar stehen zu bleiben.

Auch wenn sie schwankte. Die Taschenlampe des Alten strahlte sie an und dann an ihr vorbei.

"Sieh dich ruhig um..." sagte er nur und Jessica mühte sich. Sie drehte den Kopf und folgte

dem Licht der Lampe. Es fiel auf einen langen Gang an dem immer in gleichmäßigen

Abständen links und rechts Nischen angebracht waren. Nischen in denen etwas großes,

unförmiges stand, das sie nicht näher erkennen konnte. Oder nicht erkennen wollte...

Der Alte war lautlos wieder bei ihr. Diesmal packte er sie an der Schulter und schleifte sie ein

paar Meter hinter sich her in den Gang. Sein Griff war wie eine stählerne Kralle und

unerbittlich. So konnte sie ihm nur humpelnd folgen und hing in seinem Griff. Bis sie vor

einer der Nischen stehen blieben. Jessica kämpfte mit aller Macht nicht umfallen zu müssen.

Doch der Griff des Alten an ihrer Schulter war felsenfest und ließ sie gar nicht erst

zusammenklappen. Er musste über enorme Kräfte verfügen...

"Sieh genau hin..." sprach der Alte leise und Jessica musste hinsehen. Das Licht der

Taschenlampe fiel auf die Nische und in ihr hinein. In der Tat war es eine kleine Ausbuchtung

neben dem Gang: Bis zur Decke hoch und auch mit Steinen ausgekleidet. Doch das seltsamste

war der gläserne Behälter der in ihr Stand. Er war bestimmt einen Meter dick und stand auf

einen kleinen, hölzernen Podest. Er war leer.

Ein Ruck und der Alte drehte Jessica herum. Ihre Arme flogen um den Körper, hingen nutzlos

herab. Sie war wie eine hilflose Marionette in seinem Griff. Wieder Licht, diesmal auf die

andere Nische.

Jessica schrie und schrie. Sie hörte auch nicht auf, als der Alte sie losließ. Diese Nische war

besetzt. In dem gläsernen Gebilde stand jemand. Ein Kind. Eines der verschwundenen...

Es die Hände von innen gegen das runde Glas gedrückt und sah sie aus toten, weit

aufgerissenen Augen an. Und Jessica schrie immer noch. Bis sie nicht mehr konnte. Das

gleißende Licht der Taschenlampe erhellte das Schreckensbild. Die gläserne Röhre war so

eng, das der Körper des Kindes nicht zusammensacken konnte. Eng lagen die Arme an den

Körper gepresst. Dennoch war er seltsam verkrampft, dennoch waren die Augen seltsam

geweitet. Die Haut wirkte grau und eingefallen, das zuckende Licht der Taschenlampe blieb

niemals stehen und zeigte ihr den ganzen, grausamen Anblick, den ihr Verstand nicht einmal

ganz aufnahm...

Jessica schluchzte. Tränen nahmen ihr endlich die Sicht.

Der Alte trieb sie mit einem harten Stoß vorwärts. Zu den nächsten Nischen. Sie zeigte einen

Mann Mitte zwanzig in einer dunkelgrauen Uniform. Auch er stand in einen dieser gläsernen

Särge. Wenn auch einem größeren. Auch er war tot und auch seine Augen waren weit

aufgerissen. Die Haut lag dünn wie bei einer Mumie über seinen Knochen, gelbliche Zähne

blitzten im Licht der Lampe.

Jessicas Verstand setzte fast aus, aber sie erkannte in dem Mann den Soldaten des Fotos. Das

Foto, das sie im Wohnzimmer gesehen hatte. Die Uniform war aus grauen Leder, hatte breite,

schwarze Kragen. Er trug so etwas wie eine ebenfalls graue Reithose und schwarze Stiefel

dazu. An dem Revers waren zwei kleine, eckige "S" zu sehen. Die Mütze des Mannes war ein

wenig verrutscht aber dennoch erkannte Jessica das Hakenkreuz darauf. Eine deutsche

Uniform. Aus dem zweiten Weltkrieg...

Kein Spiel, kein Imitat...

Der Alte stieß sie weiter. Zum nächsten Sarg. Das Licht spiegelte sich in den Toten Augen

eines kräftigen Mannes in bunten Gewändern. Er wirkte wie ein Edelmann aus den alten

Fugger-Zeiten. Als Jessica in die toten Augen des ihr unbekannte sah, wurde ihr Übel. Sie

spiegelten eine große Angst und Panik wieder.

Sie fragte sich, wo er alle diese Kostüme her hatte. Und sie glaubte auch sein Bild erkannt zu

haben. Oben, im Haus. Schwindel kam.

Wieder wurde sie in den Rücken gestoßen und wieder kamen se zu den nächsten zwei

Nischen. In der einen stand eine junge Frau. In einem weißen Brautkleid. Aber das sah Jessica

schon gar nicht mehr. Sie war nur noch eine weinende und schluchzende junge Frau, deren

Verstand langsam in andere Dimensionen abkippte.

Und der Alte lachte nur. Er lachte, bis Jessica zu Boden brach, auf ihre Knie fiel, weinte und

schluchzte. Ohne Regung sah er auf sie herab. Er hatte schon viele so vor ihr gesehen. Sehr

viele. Seit vielen Jahren. Und alle hatten sie diese Angst, wenn immer sie das hier sahen. Da

unterschied sie sich in keinster Weise von so unendlich vielen vor ihr...

Jessicas Stimme kam für ihn überraschend.

"Wer sind sie...?" fragte sie und hatte sichtlich Mühe ihre Worte zu formulieren. Sie hatte

gehofft endgültig in den Wahnsinn abzudriften oder ohnmächtig zu werden. Doch ihr

Verstand tat ihr den gefallen nicht. Sie verfluchte ihren siebenten Sinn, ihre Neugier.

Der Alte bückte sich. "Ein Sammler...!" sagte er in einen Ton als wäre dies die Antwort auf all

ihre Fragen. Jessica zitterte und es dauerte, bis sie die Worte verstand. Der Alte richtete sich

auf. Das Licht der Lampe glitt durch einen nicht enden wollenden Flur mit zahlreichen

Nischen.

"Ein Sammler...!" wiederholte er. "Und sie kommen alle zu mir. Haben sie immer getan und

werden sie immer tun...". Er drehte sich mit weit ausgebreiteten Armen einmal um die eigene

Achse. Das Licht seiner Taschenlampe streifte dabei einmal durch den steinernen, eckigen

Gang und erhellte den dunklen Stein. Kurz blitzten Gläser in den Nischen auf. Gläserne

Behältnisse, die grauenhaftes in sich bargen...

Jessica spürte die Kälte auf den Rücken. Ihr Verstand arbeitete auf einmal auf Hochtouren.

Und sie fing an zu verstehen, die Größe des Ganzen zu erahnen. Der Alte machte sich nicht

nur einen Spaß daraus, hier verrückte Dinge zu tun. Er tat es schon ziemlich lange. Wenn

jedes Foto in dem Wohnzimmer zu einer der Nischen gehört, dann mußte er, oh mein Gott...

...ihre Gedanken setzte aus, wollte das schreckliche einfach nicht weiterdenken.

Der Alte war verrückt, völlig Wahnsinnig!.

Sekundenlang fragte sie sich, wie er all dies geschaffen hatte. Das Schaffen dieses Ganges,

die gläsernen Särge auf ihren hölzernen Podesten. All das brauchte Zeit. Verdammt viel Zeit.

Und er hatte alles ohne Aufsehen geschaffen?

Unglaublich...

Wie die ganze Situation...

Der Alte lachte wieder als Jessica auf die Beine schnellte. Sie überraschte ihn und sich selber

damit völlig.

Alles schmerzte in ihr und schwankte um sie und doch lief sie, was ihre Beine hergaben.

Nur weg von dem Wahnsinn hinter ihr...

Sie achtete nicht auf Geräusche hinter sich sondern rannte nur auf das graue Rechteck der

hölzernen Tür zu. Und sie war schnell. Sie rannte aus dem Raum, prallte fast gegen die Mauer

gegenüber, fing sich, drehte sich aber nicht um sondern war schnell durch die offene

Geheimtür. Einen Bruchteil verharrte sie. Doch Jessica hatte keine Ahnung, wie sie die

schwere Tür schließen sollte. Hinzu kommt, sie wollte keine weitere Zeit verlieren. Nur weg,

Fluchtinstinkt und Angst trieben ihren Körper weiter. Schwere Schritte schleppten sie schnell

durch die Kellertür, hinauf in den kleinen Flur. Mit pochenden Herzen prallte sie gegen die

getäfelte Wand des Hauses. Zum ersten Mal sah sie sich um. Der Alte war nicht zu sehen oder

zu hören, nur das gähnende Loch der Treppe hinter ihr, die dunkel in die Tiefe führte...

"Bin ich zu schnell für dich, du Bestie..." schrie sie in den Keller.

Speichel sprühte rot gefärbt von ihrem Blut über ihre Lippen bei den heftig ausgestoßenen

Worten. Sie stützte sich ab und konnte sich nur mit letzter Kraft aufrecht halten. Alles drehte

sich und ihr Körper rebellierte mit Übelkeit.

Mühsam drehte sie sich weiter, rannte in Richtung der Haustür. Panische Angst, das sie

verschlossen war jagte durch ihren Körper. Sie griff nach der Klinke, rüttelte daran und blieb

stehen, als die Tür aufschwang. Sie hatte so sicher erwartet, das sie verschlossen war. Und

nun war sie für Sekunden unsicher. Dann aber war sie im Freien. Die Kälte schlug ihr ins

beißend ins Gesicht. Kälte war nun ein gewohntes Gefühl für sie...

Schnee rieselte zu Boden, zusammen mit leichten Regen. Aber das war immer noch besser als

die Dunkelheit da unten und was dort noch lag. Aber hier war es noch hell. Ob gleicher

Abend oder neuer Morgen konnte sie nicht sagen. Aber es war hell!

Jessica warf sich vorwärts, verlangte von ihrem Körper das letzte. Doch nach wenigen Metern

blieb sie stehen und sah auf einen leeren Feldweg. Ihr Wagen war verschwunden. Weg!

Einfach nicht mehr an dem Platz, wo er gestanden hatte.

Jessica drehte sich im Kreis. Panik kam erneut und nur mit äußerster Anstrengung schaffte sie

es, sich zu beherrschen. Sie sah zum Haus. Die Haustür stand offen. Jessica musste seltsam

lachen. Der Alte war immer noch nicht gesehen. Kein Wunder, sie hatte in den schmerzenden

Beinen und ihrem Körper das Gefühl einen neuen Rekord gelaufen zu sein. Sie musste den

Alten völlig überrascht haben. Vielleicht war sie nicht so am Ende gewesen, wie er gehofft

hatte. Doch jetzt war keine Zeit in Freude auszubrechen. Sie musste hier weg und jemanden

holen, der diesen Irrsinn beendete.

Aber irgend etwas unbestimmtes tief in ihr sagte lautstark, das es noch nicht vorbei war. Und

das gleiche, unbestimmte Gefühl sagte ihr auch, der Alte war gefährlich. Irgend etwas

irritierte sie noch, aber sie kam nicht darauf, was es war. Doch das wollte sie auch nicht

wissen. Sie wollte nur weg. Und das möglichst schnell und weit.

Und wenn es eben sein musste, auch zu Fuß!

Also wandte sie sich zum Feldweg. Er war der kürzeste Weg zum Dorf. Und da war Hilfe.

Hilfe für sich und diesen Verrückten. Also drehte sie sich um und blieb stehen wie vor einer

unsichtbaren Wand geprallt. Dort, am Anfang des Weges, keine zwanzig Meter von ihr

entfernt stand der Alte. Ohne jede Regung.

Jessica versteifte. Es war unmöglich, das er so schnell aus dem Keller gekommen war.

Unmöglich das er an ihr vorbeigelaufen war.

Doch da stand er und sagte keinen Ton. Er sah nur zu ihr herüber und ließ seine dunkle

Erscheinung auf sie wirken. Und Jessica wankte zurück. Doch er bewegte sich nicht, drehte

nur den Kopf als wolle er zeigen, das er lebte. Aber er versperrte ihren einzigen Weg hier

weg. Gehetzt sah sie sich über die Schulter um. Da war nur das Haus und die ersten Bäume

der graugrünen Wand des dichten Waldes. Wieder sah sie zu dem alten Mann. Der stand nur

im kalten Regen und blickte zu ihr herüber. Dunkles Hemd, braune Kordhose. Und sie konnte

es nicht glauben.

Aber ihr Verstand war auch gar nicht mehr richtig in der Lage zu glauben, logisch zu denken.

Sie war froh, das er sie nicht im Stich ließ. Es konnte einfach nicht sein, das er dort stand. Er

musste in den tiefen und kalten Gewölben seines selbst geschaffenen Irrsinns tief im Keller

des alten Hauses sein, vielleicht jetzt aus der Tür wanken mit seinem gebeugten Gang. Er

konnte nicht dort stehen!!

Aber er stand dort und Jessica zitterte einfach.

Irgend etwas stimmte mit dem Schatten des Mannes hinter nicht. Er wirkte grotesk verzerrt

und flackerte als würde loderndes Feuer die Gestalt des Alten bescheinen. Aber da war nur

das gedämpfte Licht des Tages.

Schritt für Schritt wankte sie zurück zum Haus. Hatte sie eben noch laufen können, musste sie

nun bei jedem der Schritte um Gleichgewicht und ihre Sinne kämpfen. Die Erscheinung des

Alten war einfach nur präsent. Aber sie wusste, es gab kaum eine Chance an ihm

vorbeizukommen. Und noch so einen Spurt schaffte sie kaum. Es hatte keinen Sinn es zu

versuchen und dann zu seinen Füßen außer Atem und kraftlos zusammenzubrechen.

 

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