Carmilla IX: Der Arzt

Da Carmilla sich weigerte, ihr Zimmer nachts mit einer Dienerin zu teilen, ordnete mein Vater an, daß jemand vom Hauspersonal direkt vor ihrer Tür schlief. So würde man sie sofort aufhalten, falls sie wieder einmal im Schlaf umherwandern sollte.

Die folgende Nacht verlief ruhig, und am frühen Vormittag erschien der Arzt, den mein Vater, ohne mir ein Wort zu sagen, meinetwegen bestellt hatte.

Madame begleitete mich in die Bibliothek. Dort erwartete mich der ernste kleine Mann mit dem weißen Haar und der Brille, derselbe, von dem ich bereits berichtet habe.

Ich erzählte ihm meine Geschichte und er wurde zusehends ernster.

Er stand mir in einer der Fensternischen gegenüber. Als ich ihm alles gesagt hatte, lehnte er sich gegen die Wand und sah mich scharf an; in seinen Augen glomm Entsetzen auf.

Nach kurzem Überlegen fragte er Madame, ob er meinen Vater sprechen könne.

Kurz darauf trat dieser lächelnd ein und sagte:

"Herr Doktor, Sie wollen mir sicher sagen, daß ich ein alter Narr bin und Sie umsonst hergebeten habe. Hoffentlich ist es so!"

Doch sein Lächeln verschwand, als der Arzt ihn mit ernster Miene zu sich winkte.

Die beiden unterhielten sich eine Zeitlang in derselben Fensternische, in der ich mit dem Arzt gesprochen hatte. Sie schienen ernsthaft und verbissen zu diskutieren. Madame und ich standen am anderen Ende des sehr großen Raumes und brannten vor Neugier. Aber wir konnten nicht ein Wort verstehen, denn sie sprachen sehr leise. Zudem verdeckte die Nische den Arzt ganz, und von meinem Vater konnten wir nur eine Schulter, einen Fuß und einen Arm sehen. Und wahrscheinlich wirkte die Nische selbst, die von den starken Mauern und dem Fenster gebildet wurde, schalldämpfend.

Nach einiger Zeit sah mein Vater zu uns herüber. Sein Gesicht war blaß, nachdenklich und verriet, wie mir schien, tiefe Erregung.

"Laura, komm' einen Augenblick her! Madame, der Doktor meint, daß wir Ihrer Hilfe im Augenblick nicht bedürfen."

Als ich auf die beiden zuging, empfand ich zum ersten Mal eine leichte Besorgnis. Bisher hatte ich mich, obwohl ich sehr geschwächt war, nicht eigentlich krank gefühlt, und man bildet sich ja immer ein, daß man schon wieder zu Kräften kommen wird, wenn man es ernstlich versucht. Mein Vater streckte mir die Hand hin, sah aber nicht mich, sondern den Arzt an. Er sagte:

"Das ist alles sehr seltsam. Ich kann es nicht ganz verstehen. Komm' her, Laura. Höre Doktor Spielsberg einmal ganz aufmerksam zu, Liebes."

"Sie erwähnten, Sie hätten in der Nacht Ihres ersten schrecklichen Traumes das Gefühl gehabt, als drängen Ihnen zwei Nadeln in die Haut, und zwar in der Halsgegend. Haben Sie dort noch Schmerzen?"

"Nicht im geringsten."

"Können Sie mir ungefähr zeigen, wo Sie damals den Schmerz spürten?"

"Es war dicht unter der Kehle - hier!"

Ich trug ein Hauskleid, das die Stelle, auf die ich deutete, verbarg.

"Jetzt können Sie sich vergewissern", sagte der Arzt zu meinem Vater. "Laura, Sie werden nichts dagegen haben, wenn Ihr Papa Ihr Kleid ein wenig hinunterschiebt. Nur so können wir ein Symptom der Krankheit entdecken, unter der Sie gelitten haben."

Ich gehorchte. Die Stelle war nur ein oder zwei Zoll unter dem Kragenrand. "Großer Gott - hier ist es!" rief mein Vater erbleichend.

"Jetzt sehen Sie es mit eigenen Augen", sagte der Arzt im Ton düsteren Triumphes.

"Was ist denn da zu sehen?" fragte ich voller Angst.

"Nichts weiter, mein Fräulein, als ein winziger blauer Fleck, nicht größer als die Spitze Ihres kleinen Fingers. Und jetzt", fügte er, zu Papa gewandt, hinzu, "ist zu überlegen, was wir tun sollen."

"Ist es gefährlich?" fragte ich bestürzt.

"Ich glaube nicht, liebes Kind", erwiderte der Arzt. "Nichts spricht dagegen, daß Sie wieder ganz gesund werden, und nichts dagegen, daß Sie sofort damit beginnen! Geht das würgende Gefühl von dieser Stelle aus?"

Ich bejahte.

"Und - versuchen Sie, sich genau zu erinnern - war das auch die Stelle, von der das Erschauern ausging, das Sie mir vorhin beschrieben haben, das Gefühl, als ständen Sie in der kalten Strömung eines Flusses?"

"Es kann sein, ich glaube, ja."

"Sehen Sie?" sagte er zu meinem Vater. "Soll ich jetzt mit Madame sprechen?"

"Unbedingt!"

Der Arzt rief Madame zu sich und erklärte ihr:

"Ich bin mit dem Gesundheitszustand unserer jungen Freundin gar nicht zufrieden. Ich hoffe, es ist nichts Ernstes, aber wir müssen trotzdem etwas unternehmen. Ich werde die nötigen Anweisungen rechtzeitig geben. Bitte sorgen Sie, Madame, inzwischen dafür, daß Fräulein Laura keinen Augenblick allein ist. Fürs erste genügt diese Vorsichtsmaßnahme. Sie ist unbedingt zu beachten!"

"Madame, ich weiß, daß wir uns auf Sie verlassen können", setzte mein Vater hinzu. Sie bestätigte es ihm nachdrücklich.

"Und ich weiß, daß du, Laura, diese Anweisung befolgen wirst."

Zum Arzt gewandt fuhr er fort: "Ich würde gerne Ihre Meinung über eine andere Patientin hören, deren Krankheitssymptome eine entfernte Ähnlichkeit mit denen meiner Tochter haben. Sie sind zwar längst nicht so ausgeprägt, scheinen aber auf die gleiche Ursache zurückzugehen. Es handelt sich um eine junge Dame, die bei uns zu Gast ist. Da Sie mir sagten, daß Ihr Weg Sie heute abend wieder hier vorbeiführen wird, wäre es das beste, wenn Sie bei uns speisten und sie bei dieser Gelegenheit treffen könnten. Sie kommt immer erst am Nachmittag herunter."

"Vielen Dank für die Einladung", sagte der Arzt. "Ich werde also gegen sieben Uhr hiersein."

Noch einmal legten die beiden Madame und mir ans Herz, die Anweisungen genau zu befolgen, und dann begleitete Papa den Arzt hinaus. Ich beobachtete, wie er mit ihm auf dem grasbewachsenen Plateau vor dem Schloß, zwischen Weg und Burggraben, auf und ab ging, offenbar in ein ernstes Gespräch vertieft.

Der Arzt kam nicht zu uns zurück. Fast zur gleichen Zeit, als ich ihn dort unten aufs Pferd steigen, sich verabschieden und ostwärts durch den Wald davonreiten sah, trat der Mann ein, der uns regelmäßig die Post aus Dransfeld brachte. Ich sah ihn absitzen und meinem Vater die Posttasche übergeben.

Madame und ich stellten inzwischen eifrig Vermutungen über die Gründe an, die den Arzt und Papa zu jener strikten Anweisung bewogen haben könnten. Wie sie mir später erzählte, befürchtete Madame, der Arzt rechne mit einem plötzlichen Anfall, der mich, falls nicht sofort Hilfe zur Hand wäre, das Leben kosten oder mir zumindest ernsthaft schaden könnte.

Mir kam dieser Gedanke nicht. Ich glaubte - und das war sicher besser für meine Nerven -, die Vorsichtsmaßnahme ziele lediglich darauf ab, daß ständig jemand bei mir war, der aufpaßte, daß ich mich nicht überanstrengte, kein unreifes Obst aß und keine der vielen Torheiten beging, die man von jungen Leuten zu erwarten scheint.

Etwa eine halbe Stunde später trat mein Vater ins Zimmer. Er hielt einen Brief in der Hand. "Dieses Schreiben ist verspätet angekommen. Es ist von General Spielsdorf. Er hätte bereits gestern hiersein können, es kann aber auch sein, daß er heute oder morgen eintrifft."

Er gab mir den Brief. Mir fiel auf, daß Papa, der gern Besuch empfing und besonders gern den General, diesmal nicht sehr erfreut schien. Im Gegenteil, er sah aus, als wünschte er ihn dorthin, wo der Pfeffer wächst. Offenbar bewegte ihn etwas, worüber er nicht sprechen wollte.

"Papa, willst du mir eine Frage beantworten?" Ich faßte impulsiv nach seinem Arm und sah ihn flehend an.

"Vielleicht", antwortete er und strich mir zärtlich übers Haar.

"Hat der Doktor gesagt, daß ich sehr krank bin?"

"Nein, Liebes. Er glaubt, daß du, falls die richtigen Maßnahmen getroffen werden, in ein bis zwei Tagen wieder ganz gesund, oder doch auf dem Weg zur völligen Genesung sein wirst", sagte er etwas zurückhaltend. "Ich wollte, unser Freund, der General, hätte sich nicht gerade jetzt angemeldet. Es wäre mir jedenfalls lieber, wenn du bei seinem Besuch wieder ganz gesund wärst."

"Bitte, Papa", drängte ich, "was hat der Arzt gesagt? Was fehlt mir?"

"Nichts. Quäle mich doch nicht mit solchen Fragen!" Er war ärgerlicher, als ich ihn je gesehen hatte. Dann schien er zu bemerken, daß ich mich verletzt fühlte, küßte mich und sagte: "In ein paar Tagen sollst du alles erfahren, das heißt, alles, was ich selbst weiß. Bis dahin darfst du dir aber keinesfalls den Kopf darüber zerbrechen."

Dann ging er hinaus. Aber noch bevor ich darüber nachdenken konnte, wie seltsam das alles war, kam er zurück, um mir mitzuteilen, daß er etwas in Karnstein zu erledigen habe, daß die Kutsche um zwölf Uhr bereitstände und Madame und ich ihn begleiten sollten. Er habe einiges mit dem Geistlichen zu besprechen, der in der Nähe des malerischen Ortes wohnte. Und da Carmilla noch nie dort gewesen sei, solle sie uns später zusammen mit Mademoiselle folgen, die alles Notwendige für ein Picknick in der Schloßruine einpacken werde.

Ich war pünktlich fertig und kurz nach zwölf Uhr brachen Papa, Madame und ich auf. Hinter der Zugbrücke bogen wir nach rechts in den Weg ein, der über die gotische Brücke westwärts zu dem verlassenen Dorf und dem verfallenen Schloß führt.

Die Fahrt durch den Wald war unvergleichlich schön. Über sanfte Hügel und Talsenken breitete sich der grüne Teppich der Wälder, deren Unberührtheit noch nicht der forstwirtschaftlichen Kultivierung zum Opfer gefallen war. In diesem unerschlossenen Gelände windet sich der Weg häufig am Rande zerklüfteter Täler und am Fuß steiler Anhöhen entlang, inmitten einer unerschöpflich abwechslungsreichen Landschaft.

An einer Biegung sahen wir plötzlich unseren alten Freund, den General, auf uns zureiten. Er wurde von einem berittenen Diener begleitet, sein Gepäck folgte per Mietwagen oder, wie wir hier sagen, per Fuhrwerk.

Er saß ab, wir hielten an, und nach der Begrüßung erklärte er sich gern bereit, bei uns einzusteigen. Sein Pferd übergab er dem Bediensteten, der zu unserem Schloße weiterritt.

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