Kurze Nacht

(1999 Copyright by Heshthot Sordul)


Er war seinen Häschern entkommen. Fast hätten sie ihn erwischt. So knapp war es selbst damals 1511 nicht gewesen, als ihm die drei Hexenjäger der Inquisition auf den Fersen waren. Damals hatte er sein Domizil in Frankreich aufgegeben und war ins Reich des deutschen Kaisers gereist, um sich dort niederzulassen. Sicher war es eine gefährliche Reise gewesen, so wie es für einen Vampir immer gefährlich ist, zu reisen. Aber es war ihm gelungen und er hatte sich im Süden des römisch-katholischen Reiches deutscher Nation niedergelassen. Hier beschränkte sich der Wahnsinn der Inquisition darauf, arme unschuldige Frauen als Hexen zu verbrennen. Im Laufe der Jahrhunderte hatte sich vieles geändert, doch es war ihm bis zum heutigen Tage gelungen unentdeckt unter den Sterblichen zu existieren. 

Bewußt vermied er es die dunkle Gabe weiterzugeben, denn wo ein Vampir sorgenfrei existieren konnte, war es für zwei Wesen seiner Art schon wesentlich schwieriger unauffällig zu agieren. Als in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts Technik und Wissenschaft die Menschen alles andere vergessen ließen und es niemanden mehr gab, der an Werwölfe, Ghule und Vampire glaubte, wurde es immer leichter Beute zu machen ohne aufzufallen. Das führte dazu, daß er leichtsinnig wurde. Die verdammten Hexenjäger schienen ihn schon länger beobachtet zu haben, denn die junge Frau, die er sich heute Nacht als Beute erkoren hatte, mußte ein Köder gewesen sein. Er war ihr in eine dunkle Seitengasse gefolgt und dort von hinten über sie hergefallen, um ihr mit seinen Fangzähnen die Halsschlagader aufzureißen, als sie sich herumdrehte und eine Taschenlampe auf ihn richtete. Er wollte gerade höhnisch auflachen, als sie die Taschenlampe anmachte und ein gleißend heißer Strahl ultravioletten Lichtes seine Wange streifte und eine schmerzende Brandwunde verursachte. Er hatte sich sofort fauchend umgewandt, um die Flucht anzutreten, denn dieses künstliche Sonnenlicht vermochte ihn ebenso zu vernichten, wie die reale Sonne es konnte, mußte aber schmerzhaft erkennen, daß sein vermeintliches Opfer nicht die einzige Sterbliche war, die mit solch einer höllischen Lampe bewaffnet war. Aus den tief im Schatten der flackernden Straßenbeleuchtung liegenden Hauseingängen rechts und links von ihm schossen plötzlich ebenfalls gleißend helle bläuliche Lichtstrahlen auf ihn zu und verletzten seine linke Hand. Aufheulend ging er in die Knie und stieß sich kraftvoll ab. Wie ein Pfeil von der Bogensehne schoß er in die Luft. Es gelang ihm mit der unverletzten rechten Hand eine Dachrinne zu packen. Bevor ihn die zuckenden ultravioletten Strahlenbündel finden konnten, schaffte er es sich auf das Dach zu hieven, wo er erst einmal kurz kniend verweilte, um seine Situation zu überdenken. Über die Dächer konnte er nicht zu seinem Domizil gelangen, denn es handelte sich um einen abgeschlossenen Häuserblock. Um dort weg zu kommen, mußte er wieder hinunter auf die Straße. Doch dort lauerten die verfluchten Hexenjäger. Er konnte aber genausowenig ewig auf dem Dach bleiben, denn bald schon würde der Morgen grauen und das gleißende Licht der Sonne würde ihn in Sekundenschnelle verglühen lassen. 

Er mußte hier weg, soviel stand fest, nur wie? Unten hörte er die Stimmen seiner Verfolger Sie teilten sich auf und er vernahm, wie einer den anderen zurief, er wolle durchs Haus aufs Dach gehen, um ihn dort zu stellen, während die anderen unten darauf achten sollten, daß er nicht entkäme. Es schien sich um mehr als nur die drei Sterblichen zu handeln, denen er kurz zuvor so gerade noch entkommen konnte. Auf seine linke Hand starrend, welche langsam begann, sich zu regenerieren, fühlte er den starken Juckreiz im Gesicht, was ihm bewies, daß auch die verbrannte Haut seiner Wange zu heilen begann. Ruhig sah er sich dann auf dem Dach um und kam zur Erkenntnis, daß es nur eine Tür gab, durch die man vom Hausinneren auf das Dach gelangen konnte. Sie befand sich in einem kleinen Aufbau. Rasch huschte er dorthin und sprang auf diesen. Kniend wartete er ab. Schon nach kurzer Zeit wurde die Tür unter ihm langsam geöffnet. Er sah einen Kopf erscheinen der sich vorsichtig umsah. Dann öffnete sich die Tür vollends und der bläuliche Lichtstrahl der Taschenlampe durchschnitt das Dunkel der Nacht. Der Hexenjäger, ein junger Mann mit langen blonden Haaren und einem schwarzen Rollkragenpulli machte vorsichtig einen Schritt auf das Dach hinaus. Darauf hatte der untote Blutsauger gewartet. Seine Hand schoß vor, die zu Klauen gekrümmten Finger umschlossen blitzschnell das Gesicht des jungen Mannes. Messerscharfe lange Krallen durchdrangen Haut, Fleisch und Knochen und schnitten tief in das Gehirn des Sterblichen, der nicht einmal mehr dazu kam, einen Schmerzensschrei auszustoßen. Die Lampe entglitt seinen Händen und zerschellte, als sie auf schlug. Dann löschte der Untote gierig seinen brennenden Durst. Sofort heilten die schweren Brandwunden und er fühlte sich wieder stark und voller Energie. 

Wie ein Schatten huschte er durch die Tür ins Hausinnere, wo er ungesehen bis in den Keller gelangte. Nach kurzem Suchen fand er, was er suchte. Ein schweres Eisenrost versperrte den Weg in die Kanalisation. Mit einer fast verächtlichen Handbewegung hob der Vampir das Rost an und warf es wie beiläufig in eine Ecke des Kellers, um dann in den Tiefen der Kanalisation Stuttgarts zu verschwinden. Und hier war er nun. Über ihm war mittlerweile die Sonne aufgegangen und er sollte längst in seinem mit Samt ausgeschlagenen Sarg liegen. Stattdessen saß er hier unten in einer stinkenden Kloake, umgeben von nassen fiependen Ratten, und wartete ungeduldig darauf, daß die Sonne endlich wieder dem ruhigen silbrigen Glanz des kühlen Mondes wich. Er konnte ihre dünnen blassen Strahlen durch die Löcher eines Gullydeckels sehen, kauerte aber selber geschützt im Dunkeln der mannshohen Kanalröhre. Immer wieder verfiel er kurz in jenen starren Zustand, der ihn jeden Tag wie einen Toten schlafen ließ. Doch heute erlaubte er es sich nicht völlig in Starre zu fallen. Das war unter diesen Umständen und weit von seinem schützenden Sarg entfernt viel zu gefährlich. In all den Jahrhunderten mußte er nicht einen einzigen Tag außerhalb seines schützenden Sarges verbringen. Und nun saß er hier in dieser feuchten Röhre voller Fäkalien und mußte seine ganze Konzentration und Willenskraft aufbringen, um nicht in den Todesschlaf zu sinken. Er wußte nicht, ob es die Ratten wagen würden ihn anzufressen, wenn er leb- und wehrlos mitten unter ihnen lag, hielt es aber durchaus für möglich. Und die Vorstellung, diese Nager wären dabei, sich durch seine Eingeweide zu fressen, wenn er erwachte, mißfiel ihm so sehr, daß es ihm tatsächlich gelang, sich immer wieder aus der beginnenden Starre zu reißen. Sein Zeitgefühl ging ihm dabei völlig verloren und er glaubte schon dieser eine Tag würde eine Ewigkeit dauern, als die Sonnenstrahlen dann doch endlich blasser wurden.

 Sofort kehrte seine Energie zurück. Kaum waren sie vollends verschwunden, lief er zu den Eisentritten, kletterte daran empor und hob den Deckel an. Es herrschte dunkle Nacht. Den Gullyschacht verlassend sah er sich um. Seltsam - überall standen Sterbliche herum und starrten in den Himmel, als erwarteten sie dort die Ankunft der apokalyptischen Reiter. So etwas hatte er noch nie erlebt. Da ihn niemand zu beachten schien, schritt er langsam durch die Menge. Es herrschte eine Totenstille. Eine gespenstische Atmosphäre. Er hörte das Blut durch die Venen und Arterien der Sterblichen fließen, roch das salzige Aroma ihres Schweißes und doch verspürte er keinen Hunger, wie es sonst der Fall war, wenn er zu Beginn der Nacht seinen Sarg verließ. Gerade als er die Hauptstrasse überquerte, um sich zu seinem Domizil zu begeben, wurde ihm kurz schwarz vor Augen. Er fühlte sich plötzlich so schwach und energielos, wie kurz vor Sonnenaufgang. Aber das konnte doch nicht sein. Die Sonne war doch gerade erst untergegangen. Langsam ging er weiter und betrat die kleine Nebengasse, die zu seinem Versteck führte, als sich seine Augen panikartig öffneten. Es wurde hell! Mitten in der Nacht wurde es plötzlich hell! Ein erstickter Schrei entrang sich seiner brennenden Kehle und er hörte das Zischen seiner kochenden Haut. Er kam nicht mehr dazu, seinen Schmerz und seine Panik herauszubrüllen. Sein Kopf flog in den Nacken und er starrte zum Himmel, wo er zum ersten Mal seit Jahrhunderten die Sonne sah. Eigentlich handelte es sich nur um einen schmalen Streifen des gleißenden Himmelskörpers, denn der Rest war von einer dunklen Scheibe verdeckt. Das Zischen wurde zu einem hellen Pfeifen, dann platzte seine Haut auf und er explodierte mit einem dumpfen Geräusch. Flocken verbrannten Fleisches taumelten wie schwarze Schneeflocken durch die Luft und vergingen. Zurück blieb nur ein schwarzer schmieriger Fleck auf dem Boden. 

Fünf Minuten später trat ein Teenager in diesen Schmier. Doch das störte diesen nicht, zu sehr war er noch von dem Erlebnis der zweiminütigen völligen Sonnenfinsternis, die er gerade beobachtet hatte, fasziniert.

Ende