Liebe

(by Kristalldrachen)

Virginia ging. Sie wusste, dass es diesmal für immer war. Nein, sie würde nicht mehr zu dieser heilen Welt zurückkehren, die keine war, die nicht einmal eine Welt war. Menschen belogen sich den ganzen Tag lang. Die Menschen bestritten alles, was sie nicht verstanden. „Es gibt keine Magie.“ Manchmal wagten sie nicht einmal das Wort „Magie“ in den Mund zu nehmen. Sie nannten es Schwachsinn.

Doch sie wusste, dass es etwas gab, dass der einfache Verstand nicht voll ergreifen konnte. Etwas kurz hinterm Horizont, dass sich immer weiter entfernte, wenn man darauf zuging. Aber sie, sie hatte einen Blick hinter den Horizont geworfen, hatte das geschaut, was viele Menschen für unmöglich hielten. Und sie würde nicht mehr weiterleben, so oder so. Sie konnte es nicht mehr, dafür hatte sie zuviel gesehen, zuviel gefühlt.

Je näher sie seinem Unterschlupf kam, desto mehr fühlte sie, dass sich hier ihr Schicksal erfüllen würde. Würde er es tun? Oder würde er zurückschrecken, wenn sie ihm ihren Wunsch offenbarte? Sie würde es erfahren, denn, wenn sie eintrat, würde er es wissen.

Die Sonne versank langsam hinter dem Horizont, während sie ihren Weg durch die Stadt nahm.

Als sie ankam, war die Sonne schon ganz verschwunden und würde erst am nächsten Tag wieder aufgehen. Ohne sie, ohne Virginia.

Er hatte schon unruhig auf sie gewartet. Sie sah es an der Art wie er ihr entgegenging und sie umarmte, aber kein Kuss. Langsam löste er ihre Umarmung. Er wusste es. „Warum?“ Seine tiefe Stimme hallte mehrmals von den Wänden wider und erzeugte eine angespannte Atmosphäre.

„Das weißt du genau“, entgegnete Virginia lediglich.

„Ich möchte es aber von dir hören.“ Er war wütend. „Wie kannst du so etwas von mir erwarten? Ich bitte dich,“ er kniete vor ihr, „nein, ich flehe dich an, erwarte nicht von mir, dass ich das entscheide. Du weißt, dass ich dich liebe. Mehr als alles auf der Welt, aber ich kann das nicht tun.“ Die letzten Worte hatte er sehr leise gesprochen, aber sie hatte die Worte trotzdem verstanden und jedes einzelne hatte sich wie Feuer in ihr Herz gebrannt.

Vielleicht hat er Recht, schoss es ihr kurz durch den Kopf, doch warum hat er ihr zuerst die wunderbaren Seiten gezeigt, nur um sie jetzt so hart abzuweisen. Nein, sie wollte nicht mit dem Wissen weiterleben, dass es so eine Welt gibt, aber dass sie sie nie erreichen wird.

„Dann muss ich ‚Leb wohl’ sagen.“ Virginia sprach leise und ihre Stimme war voll Trauer. Sie liebte ihn und wollte ihn nicht verlassen, er schien, das zu spüren.

„Virginia.“ Seine Stimme klang überzeugend, doch diesen Trick hatte er ihr schon gezeigt und sie fiel nicht darauf herein. Also versuchte er sie mit Logik zu überzeugen, doch was war Logik schon in der Liebe, die selbst der Widerspruch zur Logik war. „Du hast dein ganzes Leben noch vor dir. Du kannst eine andere Liebe finden, glücklich werden.“

„Aber ich habe meine Liebe doch schon gefunden.“ Wieder sprach sie ruhig und bedacht. „Bitte, du weißt doch, was ich denke, also akzeptiere es. Du hast sowieso keine andere Wahl.“

Er fuhr auf. „Sag mir nicht, ob ich wählen kann oder nicht.“ Diesmal schrie er. „Du hast keine Ahnung, was du dir da wünschst. Ich werde dich nicht in so ein Monster verwandeln und jetzt – GEH!“

„Du kannst wirklich ein guter Schauspieler sein“, unterbrach sie seine wütende Tirade. „Aber denk auch an mich! Du hast mir eine Welt gezeigt, die atemberaubend ist und im selben Augenblick hast du sie mir für immer verwehrt.“

„Denk auch an MICH?“, äffte er sie nach. „Ich tue die ganze Nacht nichts anderes.“ Sein Zorn entlud sich in einem einzigen gewaltigen Schrei, so laut dass er wie Donnergrollen von den Wänden widerhallte. Und dann schien dieses Wesen in sich zusammenzusacken, als wäre alle Kraft mit einem Male aus ihm gewichen. „Ist es denn wirklich dein Wunsch?“ Er klang so verzweifelt, dass Virginia nicht wusste, was sie tun sollte. Und zum ersten Mal realisierte Virginia, dass diese Entscheidung nicht nur sie Kraft kostete, sondern auch ihn. Und zum ersten Mal fühlte sie die ganze Liebe, die sie verband ganz und vollkommen.

„______, bitte.“ Indem sie seinen Namen aussprach, brach sie seinen Widerstand endgültig. Er wollte es auch und sie wusste das, hatte es genutzt. Jetzt wollte er keinen Widerstand mehr leisten, er wollte, dass sie wurde wie er. Ein Vampir. Ein Wesen, das nur die Nacht kennt und für dieses Opfer ewig lebt.

Langsam richtete er sich zu seiner ganzen gewaltigen Größe auf, körperlich wie mental, und trat auf Virginia zu. „Ich muss dich das fragen“, fing er an. „Ist es dein Wunsch so zu werden? Aus freiem Entschluss?“

Sie kam sich etwas albern vor, als sie „Ja“ antwortete.

Er trat dichter auf sie zu und legte seinen Arm um sie, um sie näher zu sich zu ziehen. Er neigte den Kopf, zögerte aber noch einen Moment zuzubeißen. Unwillkürlich schaute er noch einmal in ihre Seele, prüfte, ob es wirklich ihr innigster Wunsch war und was er sah, überzeugte ihn gänzlich. Als seine Lippen ihren Hals berührten, spürte er wie sie vor Erwartung zu zittern begann. Langsam grub er seine Zähne in ihren Hals und trank ihr Blut in Zügen. Das Blut lief seinen Hals hinunter und erfüllte ihn mit einer Kraft, die unvorstellbar für einen Menschen war. Als er spürte, dass sie starb, hörte er auf zu trinken. Er ließ sie vorsichtig zu Boden gleiten, hob behutsam ihren Kopf und ritzte seine Haut an der verletzlichen Stelle am Handgelenk auf. Sein Blut floss in ihren Mund und regte sie immer noch zum Schlucken an.

Irgendwann – wie es ihm vorkam nach vielen Stunden – erwachte Virginia wieder, doch sie lebte nicht mehr, atmete nicht mehr. Trotzdem würde Virginia durch eine unbekannt, dämonische Macht am Leben erhalten werden. Ihrer beider Leben war pervers und falsch, dennoch wollten beide nicht sterben.

Virginia erhob sich und trat auf ihn zu. „Danke.“ Das war das letzte Wort, das er hören sollte, bevor sie ihm einen Pflock durch das Herz stach und so sein widernatürliches Leben beendete. Der letzte Gedanke, der ihm durch den Kopf schoss, war dass sie ihn getäuscht hatte. Sie hatte ihn belogen. Das letzte, was er tat, war eine Träne zu vergießen, die ihm die Wange herunterrollte, dann löste er sich in Staub und Rauch auf.
Der Mond schien in dieser Nacht nicht ganz so hell, denn er hatte eines seiner Kinder verloren.