Vorbemerkung
Die folgende Kurzgeschichte wurde von mir im Sommer 2004 als Beitrag zum 1. Literaturwettbewerb der Deutschen Bahn und Books on Demand eingereicht. Schon sah ich mich in meinen Träumen mit Geld, Ruhm und Ehre überschüttet. Allein, die Jury hatte wohl für bahnfahrende Vampire nichts übrig und bedachte mein Werk mit keiner einzigen Erwähnung.
Nun stelle ich sie der Vampyrbibliothek zur Verfügung und hoffe, dass sie geneigte Leserinnen und Leser findet. Ein Tipp: Etwas Humor solltet ihr bereithalten, wenn ihr die Geschichte lest. Viel Vergnügen. 

George LeMaître



Auch für Vampire


(Copyright 2004 by Jürgen Romainczyk)

Martin war ein Vampir und fuhr einmal in der Woche mit dem ICE von Düsseldorf nach Frankfurt. Mittwochabends hin und Donnerstagmorgens zurück.
Auch für Vampire war der ICE die schnellste und bequemste Möglichkeit um von Düsseldorf nach Frankfurt zu kommen.
Klar, er hätte sich auch in eine Fledermaus verwandeln und hinfliegen können, aber das hätte viel zu lange gedauert. Außerdem hatte das Verwandeln einen großen Nachteil: Er konnte seine Kleider nicht mitverwandeln und wäre also in Frankfurt erst einmal nackt gewesen. Dies hätte die Ausführung seiner Absichten sehr erschwert, denn dafür war es notwendig, sich unauffällig unter den Menschen bewegen zu können.

In Frankfurt suchte er sich seit einiger Zeit seine Opfer, während er in Düsseldorf ein winziges Einzimmerappartement bewohnte und ein unauffälliges Leben führte. Das wenige Geld, das er brauchte, verdiente er sich als Barkeeper in der ‘Arterie‘, einer ruhigen Kneipe, die einem befreundeten Vampir gehörte. Tagsüber blieb er meist in seiner Wohnung und schlief oder schrieb Gedichte. Zwar hätte ihn das Tageslicht nicht gleich umgebracht, aber es tat ihm nicht gut und war auf die Dauer sehr gefährlich, etwa so, wie es für einen Menschen gefährlich ist, sich an einem heißen Sommertag ungeschützt in der prallen Mittagssonne aufzuhalten. Normale Lebensmittel nahm er ab und an zu sich, aber sie gaben ihm nicht das, war er wirklich brauchte, und wenn er nicht regelmäßig Blut getrunken hätte, dann wäre er krank geworden und nach einiger Zeit an etwas gestorben, das man ganz grob als Nährstoff- und Vitaminmangel bezeichnen könnte. Darüber hinaus konnte er dem Bluttrinken noch viele andere, sehr faszinierende Aspekte abgewinnen, aber diese hier alle zu erläutern, würde zu weit führen.

Wieder war es Mittwochabend und Martin saß im ICE. Der Zug raste mit fast 300 Stundenkilometern dahin. Durch das Fenster sah Martin die A3 und beobachtete die Autos, die der ICE alle locker überholte. 
Er freute sich schon auf die Nacht in Frankfurt. Mittwochs war nicht so viel los wie am Wochenende, und das war gut so. Dafür waren an diesem Tag gerade die Leute unterwegs, die er haben wollte: die Individualisten, diejenigen, die nicht so sehr an die Masse angepasst waren, die ‘anders‘ waren, so wie er selbst ja auch ‘anders‘ war. Zu diesen Menschen fühlte er sich hingezogen.
Martin ließ keine Leichen zurück, wenn er auf die Jagd nach Blut ging. Zum einen erregten Leichen zu viel Aufsehen, zum anderen wollte er seinen Opfern auch nicht gerne einen bleibenden Schaden zufügen, denn er hatte viel Sympathie für sie. Schließlich ermöglichten sie es ihm überhaupt erst, zu existieren und sein Dasein zu erhalten.

Er sah die großen Bürotürme der Stadt Frankfurt vor sich auftauchen. Der Zug fuhr in den Hauptbahnhof ein und hielt an. Martin stieg aus und ging mit ruhigen Schritten in die Stadt. Die Nacht war noch jung, er brauchte sich nicht zu beeilen.

Schon seit vielen Jahren suchte er bei seinen nächtlichen Ausflügen die Orte auf, an denen sich die nach schwarzen Träumen Gierenden versammelten, diejenigen, die in und durch diese Träume lebten, die Todessehnsüchtigen und die, die sich einredeten, es zu sein. Hier traf er Menschen, die selbst gern Vampir gewesen wären, die nicht selten glaubten, es in irgendeiner Weise auch zu sein und die es vielleicht auf eine gewisse Art auch tatsächlich waren. Ein wenig wunderte sich Martin über diese Menschen, aber er mochte sie, und wenn es überhaupt so etwas wie eine Seelenverwandschaft zwischen Vampiren und Menschen geben konnte, dann fand er sie bei ihnen.
Nachdem er eine Weile durch Frankfurt spaziert war, begab er sich in eine Kellerdiskothek, die er vor sechs Wochen schon einmal besucht hatte. Sie war nur wenige Gehminuten vom Bahnhof entfernt. Noch war nicht viel los. Eine kleine Gruppe jugendlicher Waver stand biertrinkend neben der leeren Tanzfläche. An der Theke saßen zwei heftig aufgestylte Teenie-Mädchen, die Martin neugierige Blicke zuwarfen. Ganz hinten noch ein männlicher Gast, der sich offenbar mit dem Drehen von Zigaretten beschäftige. Martin setzte sich ebenfalls an die Theke, möglichst weit von den anderen entfernt. Es war noch zu früh für ihn, um in Aktion zu treten. Er bestellte eine Bloody Mary, trank einen Schluck und wartete geduldig, bis der Club sich mit schwarzen Nachtschwärmern füllte.

Kurz nach Mitternacht war die Diskothek zum Bersten voll.
Martin unterhielt sich mit Angie, einer hübschen jungen Gothic-Frau. Angie trug ein schwarzes Kleid, war nicht so stark geschminkt, sondern fiel statt dessen durch ein sehr reizvolles Dekolleté auf. Von ihrem Wesen her war sie flippiger als die Frauen, die Martin sonst kennenlernte, aber sie war richtig. Er irrte sich da nie, denn als Vampir hatte er auch empathische Fähigkeiten und wußte immer sehr schnell, welche Frauen geeignet waren und welche nicht. Und junge Frauen bevorzugte er. Schließlich waren auch Vampire keine Kostverächter, zumindest bei Dingen, die das Bluttrinken betrafen.
Am allerbesten war es, wenn die Frauen in der Nähe wohnten und ihn mit nach Hause nahmen. Dort konnte er völlig ungestört ans Werk gehen. Ein tiefer Blick aus seinen schönen, vor dem Biss leicht metallisch glänzenden Augen, und die Frauen waren fasziniert, hypnotisiert, paralysiert, wehrlos. Er trank immer nur so viel von ihrem Blut, wie es ihnen nicht schadete und verschwand danach schnell. Die Frauen blieben benommen zurück und wußten am nächsten Tag nicht, was ihnen genau widerfahren war und fragten sich, ob sie vielleicht alles nur geträumt hatten. Für die meisten blieb es ein zwar nicht ganz fassbares, aber irgendwie wunderschönes und deshalb unvergessliches Erlebnis.
Auch Angie wohnte in der Nähe. Martin ließ seinen Blick zwischen ihrem weißem Hals und ihren Brüsten hin- und hergleiten. Den Hals oder die Brüste? Die Brüste! Schon bald würden seine spitzen Vampirzähne in diesen süßen, noch jugendlichen Busen eindringen und genüßlich daran saugen. Er spürte, wie sich seine Lippen mit pulsierendem Vampirblut füllten, wie sie leicht anschwollen und wie seine Eckzähne ein Stück in die Länge wuchsen.

Martin ließ sich Zeit. In diesen Dingen war er ein Genießer und kostete auch die Vorfreude voll aus. Der Club hatte lange geöffnet.
„Sag mal, kennst du den Typ hinter dir?“, fragte Angie. „Der beobachtet uns schon die ganze Zeit.“
Martin durchzuckte bei dieser Bemerkung blitzartig eine ganz bestimmte Angst. Zwei Vampirfreunde hatten ihn gewarnt: Sie hatten behauptet, er triebe sich zur Zeit in Frankfurt herum. Martin war schon damals ordentlich erschrocken, tat aber dann die Warnung schnell ab. Meist waren solche Behauptungen nur Gerüchte und er wollte auf seine schönen Ausflüge nach Frankfurt nicht verzichten.
Jetzt wurde ihm allerdings schlagartig klar, dass er sehr unvorsichtig gewesen war. Viel zu sehr hatte er seine empathische Wahrnehmung auf Angie konzentriert. Verständlich, bei diesen saftigen, blutvollen Brüsten, aber alles andere als klug.

Vorsichtig schaut er sich um. Hinter ihm saß der Mann, der schon am frühen Abend, als Martin den Club betreten hatte, in einer hinteren Ecke an der Theke gesessen war. Er hatte eine Tasse Kaffee vor sich stehen und drehte eine Zigarette.
Martin durchfuhr es heiß und kalt. Er war sich intuitiv sicher, dass er es war: Thomas Pfleger, in Vampirkreisen nur ‘Tom the Dustman‘ genannt. Tom the Dustman war Vampirjäger und gehörte einer streng geheimen Abteilung der Berliner Polizei an. Seinen Spitznamen hatte er aus zwei Gründen. Der erste war: Tom the Dustman besaß Waffen, mit denen er Vampire in Sekunden zu Staub verwandeln konnte. Der zweite: Man erzählte sich, dass Tom nach einer erfolgreichen Vampirvernichtung stets am Ort seines Triumphes verweilen würde, bis die Straßenreinigung am nächsten Tag die staubigen Überreste des Vampirs zusammenfegte. Davon machte er Fotos, erzählte den verdutzten Straßenkehrern oft sogar, dass sie gerade einen Vampir entsorgten, und hängte dann die Bilder in seiner Wohnung auf. Manchmal holte er auch einen Handbesen und eine Schaufel aus seinem Auto, beförderte selbst den Staub in eine Abfalltonne und wartete auf die Müllabfuhr, um die Leerung fotografisch festzuhalten.
O.K., die Sache mit den Müllmännern und den Fotos mochte eine makabere Ausschmückung der Wahrheit sein, aber sicher war eines auf alle Fälle: Tom the Dustman war gefährlich.
Was sollte Martin tun? Hier drin fühlte er sich noch einigermaßen sicher, denn Tom würde versuchen, allzu großes Aufsehen zu vermeiden. Sobald sie aber draußen waren, mußte Martin mit dem Schlimmsten rechnen. Tom würde eher einen oder zwei Zeugen in Kauf nehmen, als einen Vampir entkommen zu lassen. Unkundige mochten jetzt denken, dass Martin sich draußen doch flugs in eine Fledermaus verwandeln und davonfliegen könnte, aber das war nicht so einfach: Die Verwandlung kostete viel Anstrengung und Konzentration, erzeugte jede Menge Rauch und dauerte fast eine Minute. Schon mehre Vampire waren während einer Verwandlung von Tom vernichtet worden.
Martin hatte nur eine Idee: So lange wie möglich hierbleiben, dann fluchtartig den Club verlassen, zum Bahnhof eilen und unmittelbar vor der Abfahrt den ICE besteigen, so dass Tom seinerseits den Zug nicht mehr erreichte. Wenn Martin das schaffte, war er gerettet. Erst einmal im fahrenden ICE, hatte Tom keine Chance mehr, ihn zu erreichen.

Die Stunden vergingen. Kurz nach fünf verstummte die Musik. Die Nachtschwärmer ließen sich Zeit mit dem Gehen und standen oder saßen noch immer in kleinen Gruppen herum. Martin hatte sich unter einem Vorwand umgesetzt, so dass er Tom im Auge behalten konnte. Angie wirkte mittlerweile etwas gelangweilt, saß aber immer noch bei Martin. In wenigen Minuten musste er gehen, um seinen Zug zu erreichen. Er überlegte fieberhaft, wie er es anstellen konnte, dass Tom ihm nicht sofort folgte. Da kam ihm das Glück zu Hilfe. Ein Waver, der schon reichlich betrunken schien, fragte Tom etwas. Tom gab ihm eine Zigarette. Der Waver ging aber nicht weg, sondern redete auf Tom ein. Dann kamen auch noch die Freunde des Schnorrers dazu und Tom war einen Moment ganz von der kleinen Gruppe verdeckt.

Diesen Augenblick nutzte Martin. Er sprang auf und rannte zu der Treppe, die nach oben führte. Mit wenigen Sätzen war er hinauf und draußen. Über die leeren Straßen spurtete er dem Hauptbahnhof entgegen. In kürzester Zeit hatte er den Eingang erreicht. Er hielt an und drehte sich um. Tom the Dustman kam gerade um eine Hausecke gerannt und gab alles, um Martin einzuholen.
Martin schaute auf die Uhr. Noch eine Minute, bis zur Abfahrt des ICE. Er lief in die Bahnhofshalle, bog auf den Bahnsteig ein und stieg in den hintersten Wagen des ICE. Drinnen eilte er ein Stück durch den Zug und schaute aus dem Fenster. Noch stand alles still, aber dann: Der Pfiff des Schaffners und die Türen schlossen sich. Martin sah, wie Tom am Ende des Zuges auftauchte, aber er kam zu spät: Der ICE setzte sich in Bewegung. Martin wußte, dass er gerettet war, denn mit keinem noch so schnellen Auto würde Tom vor dem Intercityexpresszug an der nächsten Station sein.
Da geschah noch etwas Bemerkenswertes: Eine Fledermaus, die sich offenbar verirrt und auf dem Dach des ICE ausgeruht hatte, flog auf und flatterte über die Gleisenden. Tom, der schon die Fäuste vor Zorn geballt hatte und mit dem Fuß aufstampfte, stutzte einen Moment, war eine Sekunde lang unschlüssig, dann machte er kehrt und versuchte, die Fledermaus durch die Bahnhofshalle zu verfolgen.
Martin grinste. Wenn Tom glaubte, dass ein Vampir sich eher in eine Fledermaus verwandeln und davonfliegen würde, als mit dem ICE zu flüchten, dann war Tom the Dustman weit dümmer als die Vampire bisher gedacht hatten.
Martin ließ sich in einen der bequemen Sitze fallen und pfiff leise durch die Zähne. Das war knapp gewesen.

Nach Frankfurt konnte er so schnell nicht mehr fahren; das wäre zu gefährlich. Aber so schlimm war das nicht. Es gab viele andere Möglichkeiten. Martin würde die Zugfahrpläne durchsehen und die Städteverbindungen prüfen. Er würde schnell etwas Geeignetes finden. Vielleicht nicht mit einem ICE, aber es konnte auch ein IC oder EC sein. Die Bahn war schon eine feine Sache. Auch für Vampire.
„Darf ich Ihnen einen Apfel als Frühstück anbieten? Sie machen den Eindruck, dass Sie ziemlich rennen mussten, um den Zug noch zu erreichen. Da kann eine gesunde Stärkung nicht schaden!“
Erst jetzt bemerkte Martin, dass auf der anderen Seite des Abteils eine hübsche junge Rucksackreisende saß. Sonst war niemand zu sehen.
„Eine kleine Erfrischung wäre jetzt wirklich nicht schlecht“, antwortete er und lächelte sie freundlich an.

George LeMaître