Tief

(c) by Dark

Tief in der Dunkelheit der Wälder raffte er sich auf. Er konnte sich kaum bewegen, er fror, er merkte, dass er keine Kleidung am Körper trug. Eine seltsame Leere breitete sich in ihm aus, als hätte er kein Blut mehr in den Adern. Und er spürte starken, wilden, beinahe unmenschlichen Durst- er dürstet nach Blut. Er begann zu rennen, schnell, immer schneller, bis er buchstäblich durch die Nacht flog, und er merkte, wie leicht ihm das rennen fiel, dass er alles um sich deutlich wahrnahm, er konnte fast so gut sehen, als wäre Tag. Da nahm er plötzlich einen Geruch wahr. Er war weit entfernt, doch dieser Geruch war so intensiv, dass er alles andere vergass, er wollte nur noch dieses Wesen finden, es fangen und ihm alles Blut aus den Adern saugen. Er nahm seine Spur auf, jagte es, hetzte es in blinder Raserei durch den Wald. Er war nah hinter dem Geschöpf- nun sah er dass es ein Mensch ist. Ein Mädchen von nicht einmal achtzehn Jahren, dass nun auf dem Boden lag, weil es in seiner Angst über eine Wurzel gestolpert ist. Er ging auf das zitternde kleine Geschöpf zu, packte seinen Kopf, biss in seinen Hals und trank. Eine wundervolle Wärme breitete sich in seinem Körper aus, er spürte, wie das Blut des Mädchen in seinen Adern zu fliessen begann. Er hörte den Herzschlag des Mädchens hämmern, und setzte erst ab, als dieser nur noch ganz schwach und leise ertönte.

Mit einem Mal wurde ihm bewusst, was er eigentlich getan hatte. Er hatte einen Menschen getötet! Er, der treue Familienvater, ein braver Christ, der Montags bis Freitags im Büro sitzt, am Samstag sein Haus und seinen Garten pflegt, und am Sonntag in aller Frühe mit seiner ganzen Familie das Haus verlässt, um in der Kirche die besten Plätze in der vordersten Reihe zu besetzen. Er hatte wirklich einen Menschen getötet, und das auf so bestialische und grausame Weise, die man sich nicht in den schlimmsten Albträumen vorstellen konnte! Was war er? Was war überhaupt mit ihm passiert? Er konnte sich nicht mehr erinnern, was er in den letzten Stunden mit ihm passier war. Das einzige, an das er sich erinnern konnte, war sein Heimweg von der Arbeit. Er stieg aus der U- Bahn und machte sich zu Fuss auf den Weg nach Hause. Er hatte sein Haus schon fast erreicht, und dann... Er wirbelte herum. Da war etwas. Er konnte es riechen. Es roch sehr vertraut. Jetzt nahm er erst die schlanke Frau wahr, die dort drüben lässig an einen grossen Stein gelehnt stand und ihn anfunkelte. Sie war wunderschön, in schwarzen Samt und Spitze gehüllt, ihr schwarzes Haar hing über ihre Schulter und reichte fast bis zu den Ellenbogen. Ihre Haut war glatt und bleich, schon fast weiss, und ihre violett- blauen Augen leuchteten in der Dunkelheit. Ihre Armen hatte sie lässig vor ihrer Brust verschränkt, an ihre Fingern, die wie Elfenbein erschienen, waren prachtvolle Silberringe gesteckt. Ihre Fingernägel waren lang und wirkt wie Glas.

„Dann bin ich vor Dich hingetreten und habe Dich in den Hals gebissen“

Er war überrascht. Er hatte doch nur in Gedanken rekonstruiert, was passiert war, bevor er den Faden verloren hatte.

„Mach Dir keine Sorgen deswegen, ich kann Deine Gedanken lesen. Früher oder später wirst Du das auch können. Aber vielleicht lernst du es auch nie... Auf jeden Fall musst Du aber lernen, Deine Gedanken zu verbergen, wir wollen ja nicht, dass irgendein halbwegs fähiger Mensch Deine Gedanken liest und dir noch einen Pflock ins Herz jagt. Nicht, dass uns ein solches Holzding töten könnte, aber so ein Pflock im Herz ist eine verdammt unangenehme Sache, weißt Du...“

In seinem Innern begann es zu arbeiten. Sie hatte ihn in den Hals gebissen. Und er hatte genau das gleiche mit einem jungen Mädchen gemacht. Also war er ein Vampir. Aber das konnte nicht sein. Vampire existierten nicht, sie waren Teil schlechter Gruselfilme und Ammenmärchen. Uns ausserdem hatten sie lange Reisszähne. Er griff in seinen Mund und musste mit Schrecken feststellen, dass er nicht mehr seine eigenen, normalen Eckzähne hatte, sondern dass sich dort jetzt lange, spitze Reisszähne befanden. Ein leises Lachen tönte vom grossen Stein herüber. Er blickte auf und sah, dass die Unbekannte ihren wohlgeformten Mund zu einem Lächeln verzogen hatte, und sah, dass sie genau gleiche Zähne hatte.

„Schau Dich an, mon amour, und Du wirst feststellen, wie hübsch Du geworden bist!“ Sie reichte ihm einen hübschen, in Silber gefassten Taschenspiegel. Er schaute hinein, und ihm blickte sein Gesicht entgegen. Allerdings sah es nicht mehr aus wie sein Gesicht. Seine Haut war so bleich geworden wie ihre, die Lippen waren blass, und seine Augen.... seine Augen hatten sich am meisten verändert. Sie hatten ihr Farbe von dem langweiligen Hundebraun in fluoreszierendes Grün gewandelt, und je tiefer man hinein sah, desto mehr Varianten von Grün glaubte man zu entdecken. Er musste seinen Blick abwenden, er hielt es nicht mehr aus, seine Augen blendeten ihn fast. Noch einmal lachte die Fremde, und dann gleitete sie leichten, schon fast schwebenden Schrittes zu ihm herüber. 

„Du hattest recht mit Deinen Vermutungen. Du bist ein Vampir. Und ich bin Valerie, deine Mutter. Das heisst, ich habe dich geschaffen. Und ich bin stolz darauf, dass du dein erstes Opfer gleich selbst gefunden hast. Es gibt nichts schlimmeres, als diese unselbständigen Anfänger, die man mit der Nase auf einen Mensch stossen muss, bevor sie begreifen, dass sie ihn vielleicht in den Hals beissen sollten, um nicht zu verdursten!“

Sie sah ihn mit funkelnden Augen an. Um Ihre Lippen spielte ein Lächeln.

„Wieso hast du mich gewählt?“ Seine Stimme kam ihm so anders vor, viel tiefer.

„Na, weil du mir gefallen hast!“ Wieder lächelte sie, und dann schaute sie ihn von oben bis unten an.

„Du brauchst erst einmal Kleider. Komm mit mir nach Hause, ich gebe dir welche.“ Sie stand auf und zog ihn mit sich. Sie fingen an zu rennen, und wieder verfielen sie in dieses rasende Tempo, aber wieder ohne über irgend einen Stein oder Baumstrunk zu stolpern, allen Hindernissen wichen sie spielend aus. Plötzlich kamen sie zu einem hell erleuchteten, reisengrossen Haus. Sie traten vor das Eingangstor, und wie von Zauberhand öffneten sich die beiden grossen Flügel. Sie traten ein in den schönsten Innenhof, den er je gesehen hatte. Überall loderten in runden, auf Ständern stehenden Steinschalen Feuer, in der Mitte befand sich ein grosser Springbrunnen und neben dem Brunnen war ein grosser Käfig aufgestellt, in dem eine Nachtigall zu ihrem wunderschönen Gesang anstimmte. Valerie nahm ihn an der Hand und führe ihn durch ein weiteres, noch grösseres Tor ins Innere des Hauses. Sie befanden sich in einer hohen Halle, die einen schwarz- weiss karierten Marmorboden hatte. Die Decke war mit einem Gemälde bedeckt, dass viele kleine Engel zeigte. Sofort kamen von allen Seiten Bedienstete- Sterbliche, wie er zu erkennen galubte- hinzu und zogen ihn mit sich. Er wehrte sich, doch während ein Bediensteter Valerie den Samtmantel abnahm, reif sie ihm zu:

„Mach dir keine Sorgen, sie bringen dich ins Badezimmer, wo du dich waschen kannst und endlich Kleider bekommst!“

Er ging mit den Menschen und wurde in ein kleines, aber sehr luxuriöses Badezimmer gebracht. Auf allen Seiten waren Spiegel angebracht. Er sah, dass er sich trotz der rasanten Rennen durch den Wald kaum verdreckt hatte. Jetzt entdeckte er in einer Nische eine mit heissem Wasser gefüllte Badewanne. Er stieg hinein. Eine wunderschöne Wärme durchflutete ihn, die aber noch lange nicht so genussgeschwängert war wie das Blut des Mädchens, dass durch seine Adern geflossen war. Jetzt erst kam es ihm wieder in den Sinn. Er hatte ein Mädchen getötet! Wie war er nur zu so etwas fähig gewesen? Schnell wusch er sich, stieg aus der Wanne und trocknete sich ab. Er musste nun unbedingt mit Valerie sprechen. Auf einer antiken Truhe fand er Kleidung. Unterwäsche, eine schwarze Hose und ein dunkelrotes, mit Rüschen und Spitzen besetztes Samthemd. Hastig zog er die Sachen an und verliess das kleine Badezimmer. Draussen warteten schon zwei Bedienstete und führten ihn in einen grossen Saal. Valerie sass alleine an einem Tisch, an dem mühelos fünfundzwanzig Personen Platz gehabt hätten. Als er hereinkam, drehte sie sich lächelnd um. Sie hatte sich umgezogen, sie trug nun ein schwarzes, hinten geschnürtes Samtkleid, dass mit einer kurzen Schleppe aus Chiffon verziert war. Ihre spitzen Stiefel blitzten unter dem Kleid hervor, als sie aufstand. Auf dem Tisch standen etwa hundert Kerzen und tauchten den Raum in goldenes Licht.

„Wie fühlst Du Dich, Liebster? Ach ja, Du hast mir Deinen Namen noch nicht veraten!“

„Peter“ antwortete er leise. Sie lachte kurz auf.

„Peter? Das passt aber nicht zu so einem Prachtskerl wie Dir. Lass mich mal überlegen...“ Sie legte einen Zeigfinger an die blutrot geschminkten Lippen.

„Ich habs. Wie wärs mit Pierre? Die französische Form Deines Namens.“

„Wie kannst du Dich nur mit solchen Unwichtigkeiten wie Namen befassen?“ schrie Pierre sie an. „Ich habe ein Mädchen getötet!“

„Aber aber, chèrie, wir wollen doch nicht gleich laut werden!“ Valerie stand auf und zog ihn zu einem Stuhl neben ihrem. Sie deutete ihm an, er solle sich setzten. Er tat wie ihm geheissen und Valerie fuhr fort.

„Schau, das liegt in der Natur des Vampirs. Er ist der Jäger, der Mensch das Opfer. Wir trinken das Blut der Menschen, um nicht zu verdursten, genau wie die Menschen die Tiere essen, um nicht zu verhungern. Allerdings behandeln wir die Menschen mit Respekt, und sperren sie nicht ein, quälen und schlagen sie nicht, wie die Menschen es mit den Tieren machen. Wir verstossen nicht gegen ihre Regeln, wenn wir uns in der Stadt aufhalten. Wir tun alles, um nicht aufzufallen.

„Und Du willst mir erzählen, dass du nicht auffällst, wenn Du mit solchen Kleidern in der Stadt herumläufst?“ Pierre schaute sie an.

„Gut Frage! Weißt Du, die Menschen halten dich für einen Gothic oder schlicht und einfach für verrückt, doch sie würden nie darauf kommen, dass du ein Vampir bist. Der menschliche Verstand lässt eine solche Vorstellung nicht zu, denn Menschen halten Vampirismus für Aberglauben. Es gibt wenige Menschen, die an uns glauben, doch diese wissen, wie gefährlich wir werden können. Darum halten sie sich von uns fern.“ Valerie schaute ihn an und lächelte dann.

„Ich glaube, es ist an der Zeit, dass Du Deine Familie kennenlernst.“ Sie klatschte dreimal in die Hände und die vier Tore an einer Wand des Saals öffneten sich. Etwa zwanzig weitere Vampire kamen schwebend in den Saal und nahmen Platz. Pierre sah Vampire in allen Variationen: blonde, schwarzhaarige, braunhaarige, rothaarige. Manche waren in Samt und Spitze gekleidet, andere in Leder, wieder andere in Satin und Seide. Valerie hob die Stimme.

„Guten Abend, meine Kinder! Ich hoffe, dass Ihr einen angenehmen Tag verbracht habt in euren Schlafstätten, und nun bereit seid, für die allnächtliche Jagd. Bevor wir ausschwärmen, will ich euch noch ein neues Familienmitglied vorstellen. Pierre ist mir heute Abend bei Einbruch der Dunkelheit vor die Nase gerannt und ich dachte, er wäre die perfekte Erweiterung unseres Familienkreises.“ Valerie und lächelte Pierre zu. Die anderen beäugten ihn neugierig.

„Du wirst bestimmt durstig sein“ sagte Valerie zu ihm, und er spürte tatsächlich schon wieder Durst. Als habe sie schon wieder seine Gedanken gelesen, nickte sie zufrieden und wandte sich wieder den anderen zu.

„Husch husch, meine Kinder, nun aber hurtig hinaus in die Nacht, ich erwarte euch schon bald wieder!“ Die Vampire erhoben sich, wie von Geisterhand öffnete sich eine grosse Glastür vis- à- vis der Wand an der die Tore waren, aus der die andern Vampire gekommen waren. Sie schritten alle in die Nacht hinaus, und ehe sich Pierre versah, waren sie verschwunden. Valerie erhob sich und nahm Pierre bei der Hand.

„Nun, mein Lieber, so wollen wir uns auch aufmachen um unseren Durst zu stillen.“ Sie packte seine Hand und zog ihn hinaus. Die Tür schloss sich, und sie liefen los.



Spätestens als Pierre seine Zähne wieder in einen Hals eines Menschen geschlagen hatte, wusste er, dass es genau richtig war, dass Valerie ihn als neues Familienmitglied auserkoren hatte.