Schläfer

Eigentlich vermisste Gesine nichts. Doch an Tagen wie heute hätte sie heulen können. Es war ihr 30. Geburtstag.
"Bei der läuft jetzt endgültig das Verfallsdatum ab." Schröder hatte das gesagt. Die ganze Meute brüllte vor Lachen. Schnell, damit niemand bemerkte, dass sie noch einmal zurückgekommen war, rannte Gesine zum Damenklo zurück und schloss sich ein. Selbst auf ihrer eigenen Party, falls man diese Zusammenkunft in der Mittagspause so nennen konnte, wurde sie von den Kollegen verspottet. Dabei wünschte sie sich nichts sehnlicher, als dass gerade Carlo Schröder ein wenig netter zu ihr wäre.
Gesine wartete ein paar Minuten, ehe sie wieder zurück in ihr Büro ging, wo provisorisch das Buffet aufgebaut war. Beim ersten Partyservice der Stadt hatte sie sündhaft teuere Häppchen bestellt, die jetzt rasch in den Lästermäulern ihrer Kollegen verschwanden. Jetzt nur noch die kurze Ansprache ihres Chefs überstehen, dann war der Rest des Tages für sie frei - ein Geburtstagsgeschenk der Firma.

Gesine seufzte laut, als sie durch die Einkaufspassage schritt und sich die Schaufenster ansah. Ebenso gut hätte sie arbeiten können; niemand wartete auf sie, niemand würde versuchen, sie anrufen. Doch nach Schröders Bemerkung war ihr nur noch zum Heulen. Sie setzte sich in ein neue Café vis a vis einer Boutique, aß Schokoladensahnetorte, beobachtete die vorbeihastenden Menschen und bestellte nach einer Weile ein zweites Stück Torte. Mit Genugtuung stellte sie fest, dass die etwas dralle Bedienung mit einem wehmütigen Blick ihre schlanke Gestalt abmaß.
"Wenn ich auch noch fett wäre..." dachte Gesine und schob den Gedanken beiseite, ohne weiter zu spekulieren. Sicher wäre sie früher oder später zu dem deprimierenden Ergebnis gekommen, dass selbst das niemanden auffallen oder gar interessieren würde.
Ihr Blick wanderte wieder hinüber zur Auslage im Schaufenster der Boutique. Ein leuchtend rotes, hautenges Minikleid mit einem Ausschnitt bis zum Nabel umhüllte eine starre Schaufensterpuppe.
"Ich sollte zu einem Psychiater gehen", flüsterte Gesine in ihre Kaffeetasse. Eine halbe Stunde später schlenderte sie mit einer Papiertüte, die das sündhafte Etwas aus dem Schaufenster sowie die dazu passenden Schuhe beinhaltete, gutgelaunt durch die Innenstadt. In einer Seitenstraße betrat sie den kleinen Buchladen, um sich mit einer leichten Lektüre einzudecken, denn sie hatte beschlossen, den Rest dieses sonnigen, warmen Tages im Stadtpark zu verbringen.
"Der Vampirs macht dich frei". Dieser Satz fiel ihr wieder ein, als sie Nancy Bakers "Blutgesang" aufschlug und die ersten Zeilen las. "Keine Vampirromane mehr"! hatte sie sich geschworen, als sie vor einigen Wochen plötzlich diese Stimme gehört hatte, die genau diesen Satz sagte. Es war ein Sonntagmorgen gewesen; sie war nur rasch ins Büro gefahren, um noch an dem Artikel für die Presse herumzupfeilen, als die Stimme plötzlich in ihrem Kopf war.
Doch beim ersten Mal hatte sie sich keine Gedanken darüber gemacht. Sie hatte es auf die stressige Situation im Büro geschoben. Doch als es noch zwei weitere Male passierte, hatte sie ihre Cousine Bea angerufen, und um ein Gespräch unter vier Augen gebeten. Bea war Psychologin, und Gesine hatte vorsichtig nachgefragt, ob es in ihrer Familie irgendwann einen Fall von Schizophrenie gegeben hatte. Doch Bea wusste von nichts, und Gesine hatte auch seitdem die Stimme nicht mehr gehört.
"Zuerst Stimmen und jetzt das Kleid", murmelte Gesine. "Wahrscheinlich bin ich ein bisschen verrückt". Sie tippte sich an die Stirn. "Rot! Ich muss verrückt sein!" Der Gipfel modischer Kühnheit war das Dunkelblaue gewesen, das sich zwischen dem hellgrauen und schwarz-weißen Einerlei ihres Kleiderschrankes bereits wie ein Exot ausnahm. Gesine schob den Gedanken beiseite und konzentrierte sich auf das Buch in ihren Fingern. Tatsächlich gelang es ihr, völlig in die Handlung einzutauchen. Sie bemerkte gar nicht, wie die Zeit verging.
Irgendwann sah sie auf und stellte fest, dass sie den Park für sich allein hatte. Die Mütter waren mit ihren Kindern nach Hause gegangen, und die jungen Paare befanden sich sicher schon auf dem Weg zur Disco.
Gesine seufzte. Die Sonne ging unter; es würde stockdunkel sein, bis sie nach Hause käme.

Die Tüte mit dem Kleid und den Schuhen warf Gesine achtlos neben den Schrank in der Garderobe und ging ins Bad. "Verfallsdatum abgelaufen" ! dachte sie wütend, während sie eingehend ihre helle, makellose Haut betrachtete, auf der sich auch jetzt, mit dreißig, kein Fältchen zeigte.
Hatte sie von Schröder etwas anderes erwartet? Sicher nicht. Schon seit sie denken konnte, war sie zu dünn, zu blass, zu farblos gewesen. Nie hatte sie wirklich eine Freundin gehabt; einen Freund schon gar nicht. "Alte Jungfer, nimm dir einen Roman, leg dich ins Bett und träum vom wirklichen Leben", flüsterte sie ihrem Spiegelbild zu und hätte am liebsten wieder geheult.
Als sie das Wohnzimmer betrat, beschlich sie ein merkwürdiges Gefühl, etwas stimmte nicht; ihre Nackenhärchen sträubten sich. Doch alles sah aus, wie sie es am Morgen verlassen hatte. Die Fenster waren verschlossen und auch die Tür war verriegelt gewesen. Sie hatte lediglich die Alarmanlage ausgeschaltet, um ins Haus zu gehen, und dann sofort wieder eingeschaltet - es konnte niemand hier sein!
Gesine schüttelte den Kopf. "Vielleicht sollte ich zur Abwechslung mal etwas anspruchsvolles lesen", redete sie mit sich selbst, während sie eine CD mit Klavierkonzerten von Beethoven aus dem Regal angelte und in den CD-Player schob. Die ersten Klänge vertrieben die unheimliche Stille des Hauses.
Als sie sich umdrehte, stand er da. Bewegungslos. Wie eine Statue aus weißem Marmor, nur die wasserblauen Augen schienen lebendig zu sein. Mit seinem weißen Zeigefinger fuhr er über die Buchrücken im Regal links an der Wand. Seine Lippen verzogen sich zu einem kurzen Lächeln, dann war sein Gesicht wieder regungslos.
"Englische Literatur. Schauergeschichten", hauchte Gesine mit dünner Stimme. Vergeblich wartete sie darauf, dass sich ihr Herzschlag beschleunigte, dass Angst sich in ihr breit machte.
"Hhm", murmelte der Fremde und nickte. Beherzt trat Gesine einen Schritt näher und betrachtete nun ebenfalls das vor Büchern überquellende Regal, als sähe sie es zum erstenmal. Sie musste daran denken, wie sie Buch für Buch während ihrer Urlaubsreisen in England zusammengetragen hatte. Sie machte immer in England Urlaub. Zwei Wochen im Frühjahr und zwei Wochen im Herbst. Stunden, manchmal sogar Tage stöberte sie dann in kleinen verstaubten Buchhandlungen und Antiquariaten herum, auf der Suche nach weiteren Schätzen.
"Sie scheinen eine Vorliebe für Vampire zu haben", bemerkte der Fremde nun und deutete auf die rechte Regalseite. Seine Stimme besaß einen angenehmen Klang und den Hauch eines sympathischen, ihr unbekannten Akzents. Jetzt vertiefte sich sein Lächeln, und Gesine konnte sich davon überzeugen, dass sie vorhin richtig gesehen hatte. Der Fremde besaß lange spitze Eckzähne, die er diesmal nicht wieder hinter seinen vollen Lippen verbarg.
"Ja, Vampire mochte ich als Kind schon furchtbar gerne. Kennen Sie die Filme mit Christopher Lee", plapperte Gesine verlegen los. "Wo ist meine Angst? Warum werde ich nicht hysterisch?. Was rede ich für einen Blödsinn!" Irgendwo in ihrem Inneren explodierte ein Lachen. Grell. Schrill. Und dann war da plötzlich wieder diese Stimme: "Der Vampir macht dich frei."
"Ich bin verrückt", entfuhr es Gesine. Zaghaft berührte sie den Fremden mit den Fingerspitzen. Der stand noch immer bewegungslos auf der gleichen Stelle, während er sie interessiert musterte.
"Wenn es sie beruhigt, Gesine ... ich bin wirklich da. Auch bin ich das, wofür sie mich halten ... aber das spielt für sie jetzt keine Rolle mehr". Wieder lächelte er.
"Ich habe sie lange beobachtet." Er nahm ihren Arm, um sie zur Couch zu führen, als er ihr leichtes Zittern bemerkte. Er holte die Flasche Portwein und ein Glas aus Vitrine. Gesine bedankte sich artig, nachdem er eingeschenkt und ihr das Glas gereicht hatte. "Wie gesagt, ich habe sie lange beobachtet." Er setzte sich zu ihr. "Sie sind immer allein. Nie haben Sie Gäste, nie gehen sie aus. Ideal für unsereins, denn es ist schwer geworden, unauffällig zu ... ähm ... zu ..."
"Morden", vollendete Gesine den Satz und trank den Portwein in einem Zug aus.
"Nun, MORDEN klingt so .... so bösartig", sagte der Vampir. Seine weißen Marmorfinger waren kühl, als er ihr sacht über Kinn und Mund strich, so als wolle er die Konturen nachzeichnen.
Gesine griff nach der Portweinflasche, um sich seiner Berührung zu entziehen. Gerne hätte sie jetzt etwas härteres als Portwein im Haus gehabt.
"Sie sind viel hübscher, als ich dachte", sagte er und löste mit geschickten Fingern den strengen Knoten, der ihre Haare bändigte.
Jetzt war er ganz nah bei ihr. Sie konnte seinen Atem an ihrem Hals fühlen, und dann seine samtweichen Lippen. Gesines Herzschlag war ganz ruhig. Sie fürchtete sich nicht - im Gegenteil, sie genoss die zärtliche Liebkosung des Vampirs, selbst dann noch, als sie die Spitzen seiner Zähne fühlte. "Der Vampir macht dich frei." Wie eine zärtliche Melodie breitete sich die Stimme in ihrem Kopf aus. Das Lachen war nun überall in ihr; es pulsierte durch ihre Adern, ließ Bilder vor ihr entstehen, die ihr fremd und dennoch seltsam vertraut waren.
Der Biss des Vampirs tat nur ein bisschen, eigentlich fast gar nicht weh. Er hatte Gesines Bluse zerrissen, um besser an ihren Hals zu kommen. Ein Tropfen Blut lief über ihren Hals hinab ins Dekolleté. Die weißen Spitzen ihres BHs färbten sich rot. Gesine lauschte dem Rauschen ihren Blutes, das sich in den Mund des Vampirs ergoss. Mit jedem Schluck, den er nahm, wurden die Bilder in ihrem Kopf klarer.
Ganz plötzlich ließ der Vampir von ihr ab, starrte sie entsetzt an und schrie auf. Ein Schwall Blut, das er noch eben aus Gesines Adern gesaugt hatte, ergoss auf den weißen Bezug der Couch. Kraftlos sank er in die Kissen zurück.
Gesine langte nach dem Schälmesser, das in der Obstschale lag. Ungerührt schlitzte sie die Ader am Handgelenk des Vampirs auf. Der Geruch des Blutes ließ ihre Hände, ja ihren ganzen Körper erbeben. Gierig führte sie den blutenden Arm an ihren Mund.
"Wie ist es, als ... als Schläfer zu existieren?" Der Vampir hatte seinen Fehler erkannt. Er wusste, was ihn erwartete. Er war sichtlich gealtert. Tiefe Furchen durchzogen seine Haut. Sein eben noch volles Haar war ergraut und fiel in Büscheln aus.
"Es ist die Hölle ..." Gesine schwieg. So etwas wie Mitleid für die jämmerliche Gestalt, die immer mehr in sich zusammenfiel, beschlich sie. Jetzt wusste sie wieder, was sie war. Fünf Menschenleben lang hatte sie als "Schläfer" zwischen den Sterblichen gelebt. Schläfer, das waren jene unscheinbaren Menschen, die geboren wurden, Jahre später starben, ohne wirklich gelebt zu haben. Sie trugen die magische, unsterbliche Keimzelle eines Vampirs in sich. Wenn sie starben, wanderten diese in einen anderen sterblichen Körper, bis der Biss eines Vampirs dem Schrecken ein Ende bereitet. Der Schläfer wurde erlöst, doch der Vampir zerfiel, wurde selbst zum Schläfer, ohne Erinnerung an sein wahres ich.
Gesine hatte bis vor wenigen Augenblicken nicht gewusst, wer und was sie wirklich war, doch jetzt war ihr Verstand wieder klar. Sie beugte sich hinab und küsste die bläulichen Wülste, die vor wenigen Minuten noch liebkosende Lippen gewesen waren. "Ein Vampir macht dich frei - irgendwann", sagte sie.
Gesine streifte den Rest ihrer Kleidung vom Körper, holte das rote Kleid und stieg in die hohen Schuhe. Im Bad besah sie sich im großen Spiegel, legte großzügig Makeup auf, das in Tuben und Tiegeln auf seinen Einsatz wartete.
Der Vampir war jetzt gänzlich zerfallen. Dort wo er gelegen hatte, bedeckte eine graue Staubschicht die weiße Couch. Gesine schaltete die Alarmanlage aus und öffnete die Fenster weit, ehe sie das Haus verließ. Sie zupfte ihr Kleid ein letztes Mal zurecht. Ein grausames Lächeln umspielte ihre blutrot geschminkten Lippen, hinter denen sie endlich wieder kleine, spitze Reißzähne fühlte. Ins "Pharao" wollte Schröder mit den anderen aus der Buchhaltung gehen. "Hasen jagen" hatten sie es genannt. "Na dann, Weidmanns Heil, Jungs!" dachte sie. An der Kreuzung winkte sie einem Taxi und stieg ein: "Ins Pharao bitte".

© by Catherine
Erstveröffentlichung 1998 bei Deadalos
2000 Auszugsweise im Programmheft des Musicals “Tanz der Vampire” abgedruckt.