Die Pforten zur Verdammnis

(Copyright by Dean Thorn)

Die Nacht war bitterkalt, Peter Streyer glaubte gar, den Frost in der Luft gleich kleinen hellen Glöckchen klirren zu hören. Der Schnee, über den Peter stolperte, war ebenfalls gefroren. Die billigen Turnschuhe, die er trug, hatten die Kälte längst schon durchgelassen, und diese frass sich nun mit langsam nagenden Zähnen von seinen Zehen weg aufwärts.

Irgendwann, so dachte Streyer, wird sie auch mein Herz erreichen.

Der Grund für diesen Gedanken waren seine Probleme mit Kathrin und im Beruf. Nun, eigentlich rührte seine Unkonzentriertheit bei der Arbeit ebenfalls von seiner Frau her, und gerade heute Morgen hatte ihn sein Brötchengeber wieder aufs Schärfste getadelt. Er fror noch immer innerlich bei dem blossen Gedanken an den Anpfiff – auch der genossene Alkohol konnte dieses Gefühl nicht vertreiben, die Verdrängung klappte nicht ganz so, wie er es sich gewünscht hätte. Und alles bloss wegen – dieser Schlampe! Er weigerte sich, den Namen auch nur im Geiste zu bilden.

Sieben Jahre hatte er für Kathrin geopfert, sieben ganze Jahre war er ihr treu ergeben gewesen – kein einziger Seitensprung, nicht mal die Idee war je in ihm aufgetaucht! Und was tat sie? Trieb es hinter seinem Rücken mit seinem besten Kollegen! Und er erfuhr es erst Monate später, während sie sich beide einen gehörigen Rausch luden. Der Kerl hatte gegrinst wie ne Hyäne, die sich ihrer Beute sicher ist. Nun, immerhin wies sein blödes Lächeln nun eine ziemliche Lücke auf...

Dafür hatte Peter sich mit Kathrin verworfen, und sie hatte sich verabschiedet – seit Tagen mied sie nun jeden Kontakt mit ihm – obwohl er sie immer noch liebte, sich nach ihr verzehrte, ihr dies auch gestand – und sogar Reue für den Schlag in Marks Gesicht an den Tag legte. Aber sie wollte nichts mehr von ihm wissen.

Nun: Er war wütend, stinksauer, und in höchsten Massen betrunken an diesem Freitagabend. Und verzweifelt. Alle diese Gefühle sowie der genossene Alkohol liessen seinen Gang torkelnd und taumelnd erscheinen, bis er wieder stehen blieb, sich an irgendwas abstützte (ob es nun ein Baum, eine Parkbank oder eine Statue war), langsam und wenig zielstrebig den Weg nach Hause suchend.

Irgendwann, irgendwo blieb er verwirrt stehen. Ihm war sterbenselend, und schwindlig dazu, so als wäre er in einen Strudel von grauen und dunklen Farben gefallen, die Umgebung verzerrt und wie von Schlieren durchzogen – kurz, die Welt spielte verrückt und drehte sich in einem fort.

All seinem Frust und dem aufsteigenden Selbstmitleid entgegen, wollte er nun nur noch nach Hause, in sein Bett sinken, sich treiben lassen, auch wenn es eine hehre Karussellfahrt werden sollte. Wo konnte er auch sonst hin, wo würde ihm jemand zuhören, wenn er sein Leid klagen wollte?

Kathrin war ja nicht mehr da.

Aber ohne sie wäre er gar nicht in dieser Lage.

Er begann zu schluchzen. Sein Leben war erbärmlich geworden, ohne Sinn. Alles, was er sich immer vorgestellt hatte, seine Träume, seine gesamte Zukunft, hing eng mit dem Gedanken an die Frau zusammen, der er so lange seine Liebe geschenkt hatte – aufopfernd, im Willen, ihr alles zu geben, hatte er sein ganzes Vertrauen in sie gesetzt – und war herb enttäuscht worden.

Warum nicht... dem Leben ein Ende setzen?

Der Gedanke sprang ihn an wie ein wildes, tollwütiges Tier. Ja – dann musste sie sich ihr ganzes Leben lang Vorwürfe machen! Sie – und nur sie! – hätte es verhindern können. Grimmig lächelte Peter vor sich hin, taumelte, als ob ihm der Gedankengang einen Schlag versetzt hätte, stolperte beinah und streckte die Hand aus, um Halt zu finden.

Die Finger berührten kalten Stein. Überrascht schaute er auf, während sich ein wenig Klarheit in seinen Kopf schlich. Ganz sacht pochte die Erkenntnis hinter seiner Stirn, die ihm zu erklären versuchte, er habe sich verirrt.

Peter lachte bitter auf. Auch das noch! Warum musste das eigentlich ausgerechnet ihm passieren? Dazu noch in einer Nacht, in der es frostig kalt war – und er war müde und trieb in Übelkeit nur so dahin.

Er schloss die Augen und stützte sich mit der heissen Stirne am kalten Mauerwerk ab. Sofort wurde ihm wieder schwindlig, und er hob die Lider unter grosser Anstrengung. Wenn er doch wenigstens wüsste, wo er sich befand! Aber die Gegend hier war ihm gänzlich unbekannt...

Er entschloss sich erst mal, dem Verlauf der Mauer zu folgen – da konnte er sich wenigstens fortwährend abstützen und sich so die Strecke entlang schieben.

Was für eine beknackte Nacht!

Die Wolkengebirge, die sich am Himmel aufgetürmt hatten, wurden auseinander gerissen, und die Sterne glitzerten kalt und gefühlslos durch die entstandenen Lücken, wie böse funkelnde Augen Streyers trunkene Odyssee verfolgend.

Steyers Hände umschlossen krampfhaft die gusseisernen Stäbe des grossen Tores, da er sich erneut abstützen musste. Obwohl er sich am liebsten übergeben hätte, würgte er den bitteren Geschmack im Mund erneut runter – er wusste, wie trügerisch und kurz die Erleichterung sein konnte; nachher würde er nur noch mehr würgen müssen. Er lehnte die Stirn gegen das kalte Metall und versuchte sich zu sammeln. Es gelang ihm nicht, da der Torflügel unter seinem Gewicht nachgab und er vorwärts stolperte. Verzweifelt versuchte er, sich an den Stäben festzuhalten, doch seine Finger, kalt und klamm, glitten ab, und er stürzte auf den gefrorenen Boden.

Heftig atmend, wobei die ausgestossene Luft einen feinen Nebel bildete, stützte er sich fluchend und zitternd auf seine Hände. Der Boden war eisig kalt, und sobald er auf den Knien war, steckte er die kalten Gliedmassen unter seine Achseln, um sie zu wärmen. Beim Sturz war er mit dem Gesicht aufgeschlagen, und seine trockenen Lippen waren an einigen Stellen aufgebrochen. Blut sickerte über sein Kinn und in seinen Mund. Der metallische Geschmack und der Schmerz holten seinen Geist ein wenig aus den von Alkohol umnebelten Tiefen, aber er befand sich noch immer auf einer Karussellfahrt – er hatte eindeutig zu viel getrunken.

Vor ihm lag ein verschneiter Weg, zu beiden Seiten von mannshohen Hecken gesäumt. Unter dem Schnee war der Pfad wohl mit Kies bestreut, den einige der Steinchen bohrten sich in seine Knie. Peter versuchte, aufzustehen, ohne die Hände zu Hilfe nehmen zu müssen – sie waren noch immer in den Achselhöhlen eingeklemmt. Schwankend kam er auf die Füsse, obwohl er beinah wieder umgekippt wäre – es fiel ihm schwer, das Gleichgewicht zu finden.

Aber er schaffte es. Erleichtert sah er sich um. Ein kalter Wind kam auf und blies pulvrigen Schnee in sein Gesicht. Er schloss die Augen und verzog den Mund.

Wie, zum Teufel, war er bloss in diese Situation geraten?

Eine dumpfe Furcht beschlich ihn. Wie sollte er je nach Hause finden? Es war mitten in der Nacht und bitter kalt – und er war unendlich müde und angeschlagen. Sollte er sich einfach hinlegen? Einschlafen – und wahrscheinlich nie mehr aufwachen? Obwohl noch vor kurzem der Gedanke an Selbstmord verlockend durch seinen Kopf geglitten war, jetzt machte ihm das Sterben angst.

Nicht hier, in dieser gottlosen Verlassenheit, bitte!

Ein leises Knacken schreckte ihn auf. Er zuckte zusammen und warf den Kopf herum. War da nicht gerade eine Bewegung gewesen, nur aus den Augenwinkeln wahrnembar, dort hinter den Hecken, ein schemenhafter Schatten von finsterer amorpher Gestalt? Eine mehr geahnte Veränderung in der Struktur der Atmosphäre?

Aber da war natürlich niemand. Wer würde sich in einer solchen Nacht draussen rumtreiben, in der Kälte, in dieser Einsamkeit?

Trotzdem fühlte er sich beobachtet – also rief er in die kalte klare Nacht hinaus:

„Hallo? Ist da jemand? He, hallo!“

Und natürlich erfolgte keine Antwort; weder der Schrei eines Nachtvogels noch das Rascheln eines Tieres war zu hören, und auch nicht die artikulierte Stimme eines Menschen ertönte, um ihn zu trösten – Gott, was hätte er gegeben, den Klang von menschlichen Worten zu hören. Aber... nichts. Nur der Wind spielte mit leisem Rascheln sein Violinenspiel mit sanft streichelnden Fingern bewegter Luft, auf den Saiten, die ihm Baumäste und steinerne Gegenstände boten.

Steyer überlegte. Wenn dies hier ein Anwesen war – und bisher niemand auf seine Ankunft reagiert hatte – vielleicht war es dann verlassen? Oder irgendwo stand ein Geräteschuppen, in dem er unterkriechen konnte und... schlafen, endlich schlafen...

Die Option schien ihm die bessere zu sein, statt die, sich seinen Weg zurück zu suchen in die Stadt, an Punkte, von denen aus er sich wieder orientieren konnte – Gott allein mochte wissen, wie weit er sich verlaufen hatte. Er entschied sich, das Gelände zu erforschen. Immerhin, die Mauern waren nicht zum Vergnügen um diesen Platz gezogen worden, oder? Irgendwas mussten sie schliesslich abgrenzen.

Seine Übelkeit war ein wenig gewichen, und er tat ein paar Schritte vorwärts, nicht mehr ganz so schwankend – sollte er doch langsam nüchtern werden?

Er liess seinen Blick schweifen, während sein Atem kondensierte. Hinter den Hecken zu beiden Seiten vermeinte er nun, Gestalten ausmachen zu können. Sein Herz nahm einen grossen Satz, und sofort daraufhin legte sich eine klamme Zwinge um es. Diese Gestalten waren vielzählig, rührten sich nicht – und sie waren ihm unheimlich. Nach kurzer Überlegung jedoch wurde ihm klar, wieso sich diese Schemen nicht rührten – sie waren aus Stein.

Immer noch fröstelnd, aber auf unbestimmbare kitzelnde Art erregt, suchte er nach einem Durchgang in der Hecke. Er fand ihn auch einige Meter weiter, ein verschneiter Pfad, der zwischen ihnen hindurch führte; und er betrat ihn.

Statuen von Engeln säumten den schmalen Weg zu beiden Seiten, hölzerne morsche Kreuze, solche aus Stein, Symbole, mit Gold in Granitblöcke eingelegt, von denen er keine Ahnung hatte, was sie bedeuteten.

Ein Friedhof!

Wie passend, dachte er, ich komm auf einen Friedhof, mit ’nem Todeswunsch und in einer bitter kalten Nacht, die zum Erfrieren einlädt...

Ein aufkeimendes Gefühl von unsicherer Furcht belauerte ihn, einen günstigen Augenblick abwartend, wann es ihn befallen konnte.

Er raffte jedes Quentchen verbliebenen Mutes zusammen und begann damit, die Gräber genauer zu begutachten. Auf keinem der Steine waren Namen oder Daten eingraviert worden – nein, wenn ein Grabstein da stand, waren bloss seltsame Symbole und kreisförmige Zeichnungen eingemeisselt, zum Teil auch mit schimmerndem Metall ausgelegt. Oder bloss die Figur, die schützend über der letzten Ruhestätte eines Unbekannten stand. Es schien, als stünden die jeweiligen Symbole, die jeweiligen Statuen für die Personen, für ihr ganzes Leben da. Wahrscheinlich vermochten nur Eingeweihte zu sagen, wer hier beerdigt lag. Die Idee frass sich in Steyers Gehirn fest, und sie faszinierte ihn. War es der Friedhof einer geheimnisvollen Sekte, die einen unheimlichen, fremdartigen Totenkult erschaffen hatte?

Noch etwas zwang ihn zu dieser Vermutung: Die Engel – waren keine Engel...

Einige der Gestalten waren von Pfeilen durchbohrt, andere wiederum von Schwertern oder Lanzen. Einige schwangen wie wild Äxte und Schwerter, erstarrt zwar in der Bewegung, jedoch schien die barbarische Kriegslust regelrecht in ihre verzerrten Gesichter eingemeisselt – andere wieder trugen die Köpfe ihrer (so vermutete er) Feinde in der Hand, und einen Engel entdeckte er, dessen Fleisch vom Brustkasten weg gezerrt war, und die Rippen stachen hervor, wie auch ein Blick auf die inneren Organe möglich war. Eiszapfen hatten sich an einigen Stellen dieser Statue gebildet, es sah aus wie tropfendes Blut. Und einer von ihnen hatte ein zerstörtes Gesicht, die eine Hälfte von anmutiger Schönheit, die andre zerfetzt und entstellt – auch hier hatte sich in der leeren Augenhöhle Eis angesammelt und kroch daraus hervor.

Peter schauderte. Das war unheimlich!

Wer auch immer diese Statuen aus Stein gehauen hatte, musste von einem kranken, verworrenen Geist besessen sein! Eine andere Triebfeder für diese schrecklichen Bildnisse konnte er nicht gelten lassen.

Und trotz allem musste dieser Mann (oder diese Frau) ein genialer, begnadeter Künstler sein.

Ihm schwindelte, und die Welt drehte sich vor seinen Augen – diesmal jedoch gab er nicht dem Alkohol die Schuld an der Übelkeit. Er hielt es nicht mehr aus inmitten all dieser gefallenen Engel, die ihn grausam lächelnd beäugten, oder mit zum Schrei geöffneten Mund anstarrten – oder einfach nur betrübt ihr Gesicht zu Boden gerichtet hatten.

Er wollte weg! Er drehte sich um, stolperte, fiel wieder hin. Diesmal konnte er sich wenigstens einigermassen fangen, bevor seine Hände in den kalten Schnee gruben. Sein Herz machte jedoch einen schmerzhaften Satz, den er konnte beim besten Willen den Durchgang in der Hecke nicht mehr finden, obwohl sein Kopf wie toll hin und her ruckte. Er stemmte sich schwankend wieder aus dem Schnee, und taumelnd eilte er zwischen den Gräbern hindurch, auf der Suche nach dem Ausgang, die Berührung mit den steinernen Denkmalen zu allen Seiten vermeidend, den Blick möglichst gesenkt oder ihnen abgewandt haltend. Falls ihm keine andere Möglichkeit bleiben sollte, würde er wohl durch die Hecke brechen müssen!

Er entdeckte eine Lücke in der weissgewandeten grünen Wand, und strauchelte erlöst aufatmend hindurch.

Er kam auf einen kreisrunden Platz, den er vorhin nicht bemerkt hatte. Immer noch mit unsicheren Schritten und erneut von Übelkeit geschlagen, betrat er ihn. Immerhin – keine grauenhaften Engel hier!

In der Mitte des Platzes befand sich ein trocken gelegter Brunnen, und dort unter dem Schnee befanden sich wohl Sitzbänke, für müde Friedhofsbesucher (wer auch immer diesem seltsamen gottlosen Ort Visite bekunden mochte...)

Und auf der anderen Seite befand sich ein kapellenähnlicher Bau. Steyers Neugier war erneut geweckt und siegte über seine (zu leise aufmuckende) Vernunft.

Peter konnte die Tatsache nicht leugnen, seiner Faszination erlegen zu sein. Sachten Schrittes, als könnte er ansonsten die Toten erwecken – und das sollte ihm hier auf keinen Fall geschehen! – näherte er sich dem einsamen Gebäude. Es strahlte eine tiefe Kälte und Ruhe aus. Eiszapfen hingen am Rand des Ziegeldaches, lang und spitz und glitzernd im fahlen Mondlicht. Die Wände waren weiss getüncht, sofern nicht Figuren aus Marmor das Mauerwerk zierten.

Doch auch hier, in diese Vertiefungen und Nischen eingelassen, schienen einige wahrhafte Abbilder von Dämonen und von Wesen, welche direkt der Hölle entsprungen, zu sein. Andere wiederum erschienen sehr menschlich, jedoch Synonyme des Martyriums, wie an ihren Verletzungen und Darstellung ihres Leidens heraus zu lesen war. Jedoch waren es keine Märtyrer, die ihm auch nur irgendwie bekannt vorkamen.

Langsam reifte in ihm die sichere Überzeugung, sich hier wahrhaftig im Wendekreis von Leben/Tod eines ihm fremdartigen Kult zu befinden. Er umrundete die Kapelle gleich viermal, um immer wieder neue – und grässlichere – Details an den Figuren auszumachen, bevor er sich endlich entschloss, den Bau zu betreten.

So fern nicht abgeschlossen war.

War es nicht. Der eine Türflügel gab mit einem hässlichen Knirschen unter dem Druck seiner Finger nach, worauf er sich erschreckt umschaute – aber da war wohl niemand zu dieser späten Stunde, der ihn beobachten konnte.

Das Holz war morsch, und der Türgriff brach ab. Peter Steyer hielt eine geschnitzte Hand zwischen seinen Fingern, kaltes feuchtes Holz, und war sie angewidert weg. Er betrachtete die Tür genauer, und fragte sich, ob der Alptraum denn kein Ende nehmen wolle?

Auch auf dem linken Türflügel streckte sich dem Betrachter eine hölzerne Hand entgegen, flehend und bittend, einer aus dem Holz geschälten Madonna gehörend, die mit flehend in die Aussenwelt gerichteten Augen und stummem Schrei nach Hilfe zu verlangen schien. Das rechte Handgelenk lag nun in hellen Splittern bar, und Steyer, obwohl er sich der Nichtexistenz des Wesens bewusst war, empfand tiefstes Mitleid. Und...

Ihr Leib war aufgerissen. Direkt unterhalb ihrer nackten wie poliert wirkenden hölzernen Brüsten sprangen die Rippen aus ihrem Leibe, während unterhalb, im geöffneten Bauch, drei tote Föten schwammen, ihre kleinen formlosen Händchen gegen den Kopf gepresst, die wehrlosen Körper gekrümmt, einsam und dem Besucher wie ein dunkles Geheimnis dargelegt.

Peter Steyer wurde erneut übel, und mit einem würgenden Geräusch vermied er es, die Stelle mit seiner Hand zu berühren, als er die Tür aufdrückte, da ihm dies wie eine Segnung dieser Blasphemie erschienen wäre.

Ja, das war es! Eien blasphemische, fehlgeleitete Anbetung eines Gottes, der in den Augen der Gläubigen grausam und ohne Gnade sein musste.

Er trat über die Schwelle, und muffige, abgestandene Luft schlug ihm entgegen. Im dämmrigen Licht des Mondes, welches durch die verschmutzten Glasscheiben hoch an den Wänden fiel, machte er zuerst den Altar (oder wozu auch immer dieser granitene Block am andern Ende des Raumes dienen mochte) aus, auf dem eine grosse Kerze zu stehen schien – jedoch war er sich nicht ganz sicher, da der Gegenstand mehr ein schwarzer Schatten war, der sich kaum hervorhob.

Er lief eilig darauf zu, in seiner Manteltasche kramend, um das Päckchen Zigaretten hervor zu fingern, in welches er sein Feuerzeug gesteckt hatte. Manchmal war es von Vorteil, Raucher zu sein. Ansonsten hätte er wohl kaum Feuer mit sich geführt.

Mit zitternden Fingern und viel Mühe, da der Docht im Wachs eingesunken war, brachte er sie zum Brennen. Der Wachs war tatsächlich schwarz, wie er vermutet hatte. Wie die kleine Flamme nun empor züngelte und das Licht mit den Schatten auf diese unheimliche Art und Weise zu spielen begann, wie sie bewegtem Feuer nun mal zu eigen, da fühlte er wieder dieses lauernde Gefühl von unberechenbarer Angst. Eine Angst, die schleichend und unangenehm scharf wie der Gestank von Pestilenz war.

Die Schatten wogten im Rhythmus seines Atems, als er sich nahe über die Kerze beugte, darauf bedacht, die kleine Flamme nicht wieder erlöschen zu lassen. Bald wuchs sie in die Höhe und gewann an Kraft. Peter richtete sich auf, hob den Blick – und prallte entsetzt zurück!

All das, was ihm bisher widerfahren und vor Augen gewesen war, entbehrte dennoch jeglichem Vergleich mit dem Grauen, welches ihm da entgegen geschleudert wurde! Wie ein Pesthauch aus der Hölle, der seinen Verstand zu versengen drohte.

Es war pure bösartige Blasphemie, eine Spottgeburt unglaublicher Gottesverleugnung, etwas, dessen er selbst nie in der Lage sein würde, es sich selbst auszudenken.

Vor ihm, keine zwei Meter hinter dem Altar, ragte ein Kreuz in die Höhe, ein Kreuz aus behauenem grauem poliertem Stein, und die Gestalt, die sich daran genagelt befand, war so fein und lebensecht herausgemeisselt worden, ja, Steyer vermeinte sogar, ein leises gequältes Stöhnen aus ihrer Kehle kommend zu vernehmen. Eiskalte Schauer liefen über seinen Rücken.

Heraustretende Adern waren an den abgemagerten Armen zu sehen, selbst Blutspritzer schienen an den Händen vorsichtig herausgearbeitet, die Wunden erweckten den Anschein, als seien die Nägel aus Stein tatsächlich durch sie hindurch getrieben worden. Der Unterleib war abgerissen, das Rückgrat trat aus dem Fleisch, der letzte Wirbel dort zersplittert, wo es bald in das Becken übergegangen wäre. Rippen stachen durch das Fleisch, die Gedärme hingen frei in der Luft. Steyer vermeinte gar, den Geruch des Todes und der Verwesung wahr zu nehmen, langsam, schleichend und aufdringlich.

Der Kopf dieser kranken Fantasie war am schlimmsten. Peter kletterte auf den Altar, wohl angeekelt und dennoch fasziniert von dem Schrecknis, fasste nach der Kerze und hob sie mit zitternden Händen hoch.

Die Augen der Kreatur, oder besser, die apfellosen Höhlen, schienen blutgefüllte Spiegel, mit tränengleichem Rinnsal über die glatten Wangen, ein Ohr fehlte, während das andere, das rechte, halb abgerissen an dem Kopfe hing. Das einzige Sinnesorgan, welches nicht beschädigt schien, war die spitze Nase, glatt und eben aus dem Stein hervorgehoben. Der Mund dieses erbarmungswürdigen Wesens war wie mit dickem Faden zugenäht worden, der Mund an einer Stelle leicht geöffnet, im Versuch, zu schreien, die Lippen dort zerrissen, die steinerne Haut zerfetzt.

Die Dornenkrone auf dem Haupt, die sich in die Stirn bohrte und schmale Blutstropfen aus Stein hervorgerufen hatte, liess schliesslich keinen Zweifel mehr, wen das Bildnis darstellen sollte.

Und das alles war in einer so grausamen Deutlichkeit und Sauberkeit gehalten, trotz der schlechten Lichtverhältnisse, Steyer konnte nicht anders, als aufzustöhnen. Ein Schwindelgefühl erfasste Besitz von ihm, und hastig liess er sich vom Altar runter zu Boden gleiten. Dabei stellte er die Kerze wieder auf den Stein und fasste sich mit beiden Händen an den schmerzenden Kopf.

Das Grauen begann, ihn aufzufressen.

Aus zusammen gekniffenen Augen bemerkte er links und rechts des Altars zwei Gemälde, die ebenfalls Kreuzigungsszenen im Stile der Statue zeigten – mochten sie als Vorlage für das Greuel an der Wand gedient haben?

Auf beiden Bildnissen war das Gesicht des Gekreuzigten in ähnlicher Verfassung wie jenes der Statue. Und selbst jetzt, da sein Verstand langsam in die dunkelsten Tiefen abzusinken drohte, erkannte er eine Verbindung, die er nicht recht fassen konnte, gar nicht wirklich begriff.

Drei Affen, die neben einander sitzen: Seh nichts Schlechtes; Hör nichts Schlechtes; Sprech nichts Schlechtes.

Vor einem sich innerlich öffnenden Abgrund stehend, mit der wachsenden Erfahrung, ihm widerfahre etwas jenseits jeglichen Verstehens und bar jeder vernünftigen Grundlage, warf er die brennende Kerze in weitem Bogen von sich.

Trockenes und morsches Holz fing sofort Feuer.

Peter Steyer erwachte mit pochenden Kopfschmerzen. Sobald er die Augen aufschlug, blendete ihn die morgendliche Sonne. Seine Glieder waren kalt und steif, und er wunderte sich, wieso er nicht erfroren war. Er lag auf einem Schneehaufen, und seine Kleider waren nass.

„Oh Mann, was für ein Alptraum!“, murmelte er vor sich hin, als dumpfe Bilder der vergangenen Nacht aus seinem Unterbewusstsein auftauchten. Aber er hatte die Nacht überstanden! Und in den wärmenden Sonnenstrahlen sah die Welt doch schon um einiges besser aus! Immer noch ein wenig frierend, schlug er die Arme um sich und setze sich auf. Er fühlte sich ein wenig benommen, aber sonst ganz in Ordnung. Ihm war nicht mehr übel, das war immerhin ein Plus, welches er auch für die nassen Kleider auf sich nahm. Trotzdem wurde es wohl Zeit, nach Hause zu gehen. Er schaffte es sogar, sich ein leichtes Lächeln abzuringen. Und er fragte sich, ob er wohl je wieder trinken würde.

„Gott, was für eine Nacht! Schrecklich...“

An seine andern Sorgen dachte er gar nicht erst, er war froh, die Nacht und die Kälte überstanden zu haben. Er rollte sich auf herum und kam dabei auf die Knie. Vor ihm ragten zwei steinerne Beine in die Höhe, gesäumt von Schwingen aus dem selben Material. Aufschreiend liess er sich nach hinten fallen, und die Erinnerung an die vergangene Nacht überschwemmte ihn erneut.

Sein Schrei verstummte jedoch, und als er in das Gesicht des Engels blickte, lächelte ihn dieses gütig und friedlich an. Aufatmend stemmte er sich erneut in die Knie und schliesslich in die Höhe. Einen Augenblick verfinsterte sich seine Sicht, dunkle Schlieren zogen über seine Augen, und schwach, wie er war, stützte er sich an dem Engel ab.

Er sah sich um und entdeckte weitere Statuen. Sie erweckten nicht denselben friedvollen Eindruck wie jener, der ihn gerade stützte, also versuchte er, sie nicht näher in Augenschein zu nehmen, sondern liess seine momentane Stehhilfe los und eilte zwischen den andern Gestalten hindurch, auf die Hecke zu, und durchbrach sie eiligst. Die Pflanzen schienen seinen Mantel festhalten zu wollen, doch er schüttelte sich und machte den Mantel frei.

Er hatte nur ein Ziel: möglichst schnell von hier weg zu kommen, nach Hause, nur nach Hause, und vergessen, vergessen, vergessen...

Seine durchnässten Turnschuhe trugen ihn den ganzen Weg zurück, eiligst und seiner Wohnung zu, wo er erschöpft zusammenbrach. Er schlüpfte aus den Kleidern, unter die warme Decke, und schlief den ganzen Tag lang und die ganze Nacht durch.

Doch während der nächtlichen Stunden kamen auch die Schatten...

Unheimliche Wesen stiegen aus dem brodelnden und kochenden See, welcher seine Alpträume bildete, Wesen, die von dieser Welt kamen, und doch nicht in sie hinein gehörten, nicht in die Welt, die er die Realität nannte. Wesen, deren Essenz schwarz war, dunkler als die Nacht, finsterer als verkommene, in den Abgrund gestürzte Seelen. Wesen, die keine Substanz hatten, weil sie nicht existierten, die er aber doch den ganzen Tag über sah, ohne sie wirklich wahr zu nehmen.

Sie jagten ihn bis in die frühen Morgenstunden, machten seinen Schlaf zu einer tödlichen Falle, der er nicht mehr entrinnen konnte.

In der vierten Nacht nach seinem unheimlichen Erlebnis auf dem fremdartigen Friedhof kletterte Peter Steyer auf das Geländer einer Brücke, richtete sich auf...

Und liess sich vom Wind in andere Sphären tragen, wo ihm vielleicht die Ruhe vergönnt wird, die er in seinem Leben nicht mehr hätte finden können.

Und der Wind nahm die Erinnerung an jene dunkle Nacht mit sich, trug sie hinfort, damit niemand je erfahren kann, was Steyer widerfahren war.

Niemand, bis auf die, die wissen, und auf die, die da sind.