Der Mann und das Leben

(Copyright 2001 von Gotha)

In einem dunklen Raum, der von einer einzigen nackten Glühbirne, die einsam an der Zimmerdecke hin und her schwankt, erhellt wird, sitzt er.

Zusammengekauert auf einem kleinen Hocker aus Ebenholz, der in der Mitte des sonst leeren Raumes steht. Verspannt hockt er da und starrt auf seine nackten Füße, die sich um die Stuhlbeine krallen, als würde er sich krampfhaft festhalten müssen, um nicht zu fallen. Die Arme, die von seinem nackten Oberkörper aufragen, sind erwartungsvoll nach vorne gestreckt, als würde er nach

etwas Unsichtbarem greifen wollen. Dunkelrotes Blut rinnt in Strömen an seinen Armen und Händen hinab, tropft

unbeständig auf den weiß gekachelten Boden. Sein Mund ist zu einer grotesken Fratze verzerrt, es sieht aus, als würde er einen lautlosen Schrei ausstoßen, der ewig ungehört bleiben wird. Und schließlich hört man tatsächlich ein Geräusch. Ein leises Röcheln, das aus seiner Kehle aufsteigt und zu einem hellen

Schrei heranreift. Seine ausgestreckten Hände beginnen zu zittern, immer schneller tropft das Blut hinab, gerinnt zu einer Pfütze, die in den Rillen der Kacheln zerfließt.

Plötzlich, mit einer schnellen Bewegung, springt er auf und rennt zu dem kleinen Fenster, durch das der Mond sein sanftes Licht strahlen lässt. Mit einer kurzen Handbewegung öffnet er das von einem schwarzen Rahmen umrandete Fenster. Sein Blick schweift nach draußen, hinauf zum Mond und den hoch aufragenden Häusern am

Horizont. Rauch steigt aus einem Schornstein auf und vermischt sich mit der Farbe der Nacht. Grelle Straßenlampen stechen in seine Augen und nehmen ihm für kurze Zeit die Sicht. Lange mustert er einen alten Baum der genau vor seinem Fenster zu einer

großen Eiche herangewachsen ist. Liebevoll berührt er in Gedanken die schwarzen, brüchigen Äste und den rauhen Stamm des schon so alten Baumes. In der Zeit seines Lebens ist dieser Baum zu einem wundervollen Geschöpf der Natur herangereift, er ist das einzige, was nicht aus Metall und Stahl zu sein scheint.

Sein Blick schweift nach unten, zu dem Asphalt, der vier Stockwerke tiefer grau zu ihm hinaufschaut. Menschen ziehen vorbei, niemand schenkt dem Mann, der dort am Fenster steht und dessen Blut immer noch beständig auf die Erde tropft, dessen Mund zu diesem schrecklichen lautlosen Schrei verzogen ist, einen einzigen Blick.

Plötzlich öffnet sich die Tür des Raumes und er fährt erschrocken herum. Ein alter Mann ist eingetreten, sein Gesicht voller Falten, es scheint als sei er schon über hundert Jahre alt, doch sein Gang gleicht dem eines jungen Mannes. Der Alte tritt ans Fenster und berührt mit sanften Händen die nackte Schulter des Verzweifelten, der zu zittern begonnen hat. "Wer sind Se?" fragt er mit ängstlicher Stimme.

"Ich bin das, was du verloren und nie wiedergefunden hast",

sagt der Alte," ich bin das Leben und ich bin gekommen, um dir das Verlorene wieder zu geben." Mit einem Griff zieht er einen kleinen Spiegel aus seiner Jackentasche und hält ihn in die Höhe, so das sein Gegenüber gezwungen ist hinein zu sehen. Dieser blickt in einer Mischung aus Angst und Entsetzen in sein eigenes Gesicht. Tränen rinnen seine Wangen hinab, vermischen sich mit dem Blut auf seinen zerschnittenen Armen. Lange steht er da und sieht sich an, sieht jede Träne, die seinem Auge entspringt, jede Wunde, die er sich selbst zufügte. Im Spiegel erblickt er sein ganzes Leben, dieses Leben voller Leiden, Qual und Angst vor jedem Tag an dem er wieder erwachte.

Plötzlich holt er aus und mit einem einzigen Schlag zertrümmert er den Spiegel. Der alte Mann, der die ganze Zeit über den Spiegel in seinen Händen gehalten hatte, sinkt zu Boden, tausend kleine Glassplitter fallen auf ihn nieder und verteilen sich auf dem Boden rings um ihn.

Der Andere dreht sich in einer schnellen Bewegung herum, tritt dabei in die Scherben, die den Boden verdecken. Mit blutverschmierten Füßen steigt er auf das schwarz lackierte Fensterbrett, streckt seine blutigen Hände gen Himmel, sieht dabei zum Mond, als würde er ihn im nächsten Augenblick umarmen können, und lässt sich ohne einen Laut auszustoßen, fallen.