Ihr Ausweg

(2000 Copyright by Mary Anne)

Sie hatte sich mit ihrem Freund gestritten. Er war ein absoluter Egoist. Warum
sollte sie sich das eigentlich weiter antun? "Dann hau doch ab!" waren seine
letzten Worte die ihr nun ständig im Kopf herumspukten. Sie wußte schon gar
nicht mehr worum es bei ihrem Streit eigentlich ging. Nur immer die selben
Worte: Dann hau doch ab! Naja, genau das hatte sie ja auch getan. Sie mußte
raus! Rannte hinaus in die Nacht; lief die Straße entlang, in der sie bereits
seit 2 Jahren mit ihm wohnte. In einem Vorort der Stadt selbst, so das man hier
noch die sogenannte "ländliche Idylle" - einfach Ruhe - genießen konnte. Fernab
des Getümmels, das es jetzt gg. 22°° im Zentrum der Stadt sicher geben würde,
bei all den Bars und Diskotheken ...
Soweit so gut, dachte sie. Jetzt bin ich ja draußen! Ich bin weg! Na hoffentlich
ist er jetzt zufrieden. Und, was nun? Momentan wußte sie wirklich nicht, wie
weiter ... Doch meist gab es einen Ausweg ... Aber wohin zum Teufel sollte sie
denn gehen? Ihre Freunde wohnten alle ein ganzes Stück weg. Sie hatte kein Auto
und naja, sicherlich auch keine Lust erst noch Stundenlang mit der Straßenbahn
durch die Stadt zu kurven. Sie wollte allein sein - nun, das war sie ja jetzt!
Und nachdenken ... nur, worüber? Sie wußte, daß sie es mit ihm nicht mehr
aushalten würde. Sie würde sich von ihm trennen. Am besten wortlos die Sachen
packen und zurück zu ihren Eltern - es sei denn ihr fiel etwas besseres ein ...

Sie entschloß sich zu einem Spaziergang - zurück wollte sie jedenfalls noch
nicht. Wohin? Gute Frage. Hinaus zum alten Stausee. Aber es gab da etwas - der
Wald der dazwischen lag. Irgendwie gruselig sich nachts allein im Wald
aufzuhalten ... oder? Früher hatten solche Ängste keinen Platz in ihrem Leben.
Wovor auch? Doch jetzt ... was hatte sich geändert? War sie einfach nur
erwachsener geworden und vielleicht ein bißchen vernünftiger? Sie war sich da
nicht so sicher, daß das zutraf. Es hielt sie jedenfalls nicht davon ab, weiter
zu gehen. Egal, was hatte sie schon zu verlieren?, dachte sie. Ja, was
eigentlich? Also bog sie hinter dem ruhigen kleinen Friedhof
an der Kirche links in die alte Straße ein. Hier war sie zu dieser Stunde allein
unterwegs. Man konnte meinen, das mit hereinbrechender Dunkelheit die Fußwege
wirklich hoch geklappt wurden und sich deshalb keiner mehr raus traut. Es ging
Richtung der alten Schule, die sogenannte "Schloßschule" - soweit sie sich
erinnerte. Aber die war jetzt schon seit Jahren geschlossen wg. Baufälligkeit.
In der Gegend war sie als Kind aufgewachsen. Stundenlang erkundete sie mit dem
Fahrrad früher ihr Terrain. Sie kannte den Wald und überhaupt das ganze Gebiet
wie ihre Westentasche.

Durch den Park der Schule, Richtung See durch den Wald ... ein Käuzchen rief
seinen bekannten Ruf durch die Nacht. Ansonsten war es still. Der Mond schien
als kleine silberweiße Sichel auf die dunkle Erde hinab. Es war sehr kühl - um
nicht zu sagen "Ar...kalt". Sie ärgerte sich, das sie ihre Jacke nicht
mitgenommen hatte. Doch vor Wut und Zorn hatte sie daran nicht gedacht. Es ist
schon komisch, dachte sie, aus welch grundloser Diskussion einfach ein Streit
entstehen kann. Nach einer gewissen Zeit hat man sich einfach auseinander
gelebt. Aus ihrer Jeans zog sie eine halbvolle Schachtel Marlboro und zündete
sich eine Zigarette an. Ganz geheuer war ihr die Gegend nicht. Doch sie sehnte
sich jetzt nach eben dieser Abgeschiedenheit. Es war schon Ewigkeiten her,
seitdem sie das letzte mal hier war - allein - und bei Nacht sowieso.
Früher hatte sie sich mit ihrer besten Freundin des öfteren am See auf der Bank
am hinteren Ufer getroffen. Das war damals gewissermaßen ihr "geheimer Platz"
gewesen. Ein Ort, an dem man ungestört über alles reden und nachdenken konnte.
Oft hatten sie mit einer Flasche Wein stundenlang dort gesessen, über die
damals wichtigen Dinge geredet und eine nach der anderen geraucht ... 

Es ist wirklich richtig gruselig hier draußen, dachte sie gerade, als sie in den
Waldweg einbog. Sie sah die dunklen Silhouetten der alten Bäume. Die Nacht war
klar, Sterne hoben sich deutlich vom Himmel ab. Aber eigentlich ganz romantisch,
dachte sie. Der Weg vor ihr war so gut wie nicht zu sehen, nur leicht hob er
sich von der übrigen Dunkelheit ab. "Au! Mist!" schrie sie auf, vor lauter
Gedanken hatte sie nicht bemerkt, wie ihre Zigarette zum Filter hin abbrannte.
Finger verbrannt - nun, sie würde das schon überleben, dachte sie sarkastisch.
Hin und wieder raschelte es im Gestrüpp. Das war schon unheimlich, doch soweit
war sie nun schon gekommen. Umkehren, nein - klein beigeben war eigentlich nicht
ihre Art!
Also lief sie weiter. Plötzlich Stimmen! Sie blieb stehen um zu lauschen. Hielt
den Atem an, doch das hatte nur zur Folge das Ihr Herzschlag laut durch ihren
Körper hallte. Die Stimmen schienen weit entfernt. Anscheinend kamen sie von
irgendwo hinter ihr oder sie bildete sie sich, dank ihrer lebhaften Phantasie -
beflügelt durch Ort und Zeit, nur ein. Sie sah sich um und sah nichts als nur
die schwarze Nacht. Konnte es sein, das es hinter ihr dunkler war als vor ihr?
So ein Quatsch ... aber ihr schien es so. Sie schrak auf, ein Rascheln ganz in
ihrer Nähe hatte sie aus ihrer Starre gerissen. Anscheinend war sie nicht allein
unterwegs in dieser Nacht ...

Oh man, wäre sie nur Zuhause geblieben - doch nein - zu spät. Sie ging weiter.
Noch bestimmt 30 Minuten nach ihrer Schätzung, dann müßte sie am alten Stausee
angelangt sein. Warum hatte sie eigentlich Angst? Wer sollte sich denn um die
Zeit hier herumtreiben? Nicht an einem Montag um diese Zeit. Da hatte sicherlich
jeder andere etwas besseres zu tun. Es war eine ruhige, sichere Gegend hier
draußen. Nie passierte hier etwas - bisher jedenfalls nicht. Andererseits,
dachte sie, es gibt für alles ein erstes mal. Die 30 Minuten werde ich schon
noch durchhalten um dann am See, an "unserem" Platz nachzudenken ... Die damals
obligatorische Flasche Wein hatte sie nur heute nicht mit dabei.

Vielleicht war ihr Spaziergang doch keine so gute Idee gewesen. Die Stimmen
hinter ihr waren plötzlich wieder da. Es schienen zwei Männer zu sein, die sich
angeregt über irgend ein Thema unterhielten. Sie sah sich um, sah wieder nichts
- obwohl die Stimmen lauter zu werden schienen. Es klang, als wenn sie sich
näherten! Na das hat mir gerade noch gefehlt, dachte sie. Ein paar Psycho´s die
mir nachts im Wald begegnen. Toll! Sie sah schon die Schlagzeilen vor sich:
"Junge Frau nachts allein im Wald unterwegs! Niedergemetzelt ..." - nein: " ...
zu Brei geschlagen ..." - So ein Schwachsinn! Es wäre sicher vernünftiger sich
so unauffällig wie möglich aus der Affäre zu ziehen und zurück ... nein, lieber
nicht! Sie legte einen "Zahn zu" und ging weiter in Richtung See. Versuchte so
leise wie möglich zu sein. Nicht das Sie noch absichtlich die Aufmerksamkeit all
der Gestalten auf sich zog, die sich vielleicht doch hier herumtrieben - nachts
zu dieser Stunde. Wie spät war es eigentlich? Sie warf einen Blick auf ihre
Armbanduhr. Sie konnte nichts erkennen. Diese "tolle" Uhr hatte nicht einmal
Leuchtzeiger. Aber nach ihrem Zeitgefühl müßte es jetzt schon mindestens halb
elf sein. Die Nacht war also noch jung ...

Vor ihr tat sich der Wald langsam auf. Die große Lichtung mit der "Holperstraße"
zum See erschien vor ihr. Wenn wirklich jemand hinter ihr sein sollte empfahl es
sich, sich zu beeilen. Es gab keinen anderen Weg. Also mußte sie da noch durch.
Dann nur noch den mit Bäumen gesäumten Weg um den See herum entlang und dann
wäre sie auch schon am Ziel ihres heutigen abends. Na hoffentlich war sie die
einzige mit diesem Ziel, dachte sie. Die Lichtung lag friedlich vor ihr. Nichts
bewegte sich. Die Zeit schien still zu stehen. Frieden und Harmonie und einen
gewissen Hauch Romantik bereitete ihr dieses Bild. Sie hatte sich eigentlich
schon wieder beruhigt. Doch da sie nun schon mal hier war ... Nicht nur der
Wald, auch der Himmel tat sich vor ihr auf. Von Astronomie hatte sie nicht viel
Ahnung, doch den "großen Wagen" erkannte sie - oder war es doch der "kleine
...". Egal. Eine Sternschnuppe überzog den Himmel und nach einer Weile verglühte
sie endgültig im dunklen Blau des Himmels. Sollte sie sich jetzt nicht etwas
wünschen? Vielleicht, noch einmal von vorn zu Beginnen? Aber diese Wünsche gehen
doch nie in Erfüllung, dachte sie.

Sie sah sich noch ein letztes mal prüfend um bevor sie ihren Weg fortsetzte. Die
Stimmen waren plötzlich wieder da. Es ist wohl besser wenn ich mich beeile über
die Lichtung zu kommen, dachte sie. Trotz der Dunkelheit war die Straße gut
sichtbar. Ca. 800 Meter bis zum See lagen jetzt noch vor ihr. Der
"Gespensterbaum" hob sich deutlich auf der sonst ebenen Lichtung ab. Den hatte
sie als Kind schon so genannt. Er war schon seit Ewigkeiten abgestorben und nach
bestimmt mehreren Blitzeinschlägen bot er selbst im Tageslicht ein wirklich
unheimliches Bild. Doch davon fühlte sie sich nicht bedroht. Der Baum wäre
sicher ein prima Postkartenmotiv, dachte sie. Sie lief los und ignorierte die
aufsteigende Angst, die sich plötzlich in ihr ausbreitete. Aber was sollte sie
sonst tun? Kehrt machen und den Fremden direkt in die Arme laufen? Nein danke.
Ab der Mitte des Weges beschleunigte sie ihre Schritte. Ihr Herz schien zu
bersten und schlug ihr bis zum Hals. Die Stimmen waren noch konstant hörbar, so
als ob sie eine kurze doch gleichbleibende Entfernung zu ihr hielten. Nun, so
als ob die Beiden oder wer auch immer, die sich da unterhielten, ständig acht
gaben, daß sie auch mitbekam, daß da noch jemand unterwegs war. Aber das war
wirklich Schwachsinn, dachte sie bei sich. Sie versuchte sich zu beruhigen. Wenn
ihr wirklich jemand was tun wollte, warum schrie er dann förmlich durch die
Gegend, damit sie ja mitbekam, das da noch jemand ist? Trotzdem, ihr Instinkt
sagte ihr: Vorsicht! Und ihre Angst schien ihr das nur zu bestätigen. Plötzlich
blieb sie stehen und hielt für einen kurzen Moment den Atem an. Dieses
unheimliche Gefühl ... Jemand beobachtete Sie! Sie drehte sich panisch um in der
Hoffnung jemanden zu sehen vor dem sie dann sowieso weglaufen mußte. Sie war ein
prima Opfer, so mutterseelen-allein auf der großen Lichtung ... Schitt, warum
bin ich nur hier raus gegangen, dachte sie und bereute es wieder. Natürlich war
niemand zu sehen. Nun, dachte sie, wenn da jemand sein sollte wird er sich mir
wohl kaum mit einer Leuchtreklame - Tafel, auf der steht: "Hier bin ich!",
preisgeben. Ihre Angst verwandelte sich langsam in Panik. Was sollte Sie jetzt
tun? Nichts schien ihr das Richtige zu sein. Es war einfach eine mehr als dumme
Idee gewesen. Mit einem plötzlichen Entschluß fing sie an zu laufen - schneller,
immer schneller. Als sie am anderen Ende der Lichtung - es schien, nach einer
Ewigkeit - endlich ankam, drehte sie sich gehetzt um und versuchte erst einmal
wieder zu Atem zu kommen.

Tatsächlich, es war ihr jemand gefolgt! Ganz deutlich sah sie wie sich zwei
dunkle Gestalten in der Silhouette des zurückliegenden Waldes abhoben. Und, als
ob das noch nicht genug wäre hob die linke der Gestalten jetzt einen Arm wie zum
Gruß. Das war zuviel für sie! Sie dachte ihr Herz bliebe sofort stehen. Ihre
Knie wurden ganz weich. Atme - mußte sie sich ermahnen um nicht in Ohnmacht zu
fallen. Sie wußte zwar nicht wie das ist, doch ungefähr so stellte sie es sich
vor. Fliehen - sie mußte fliehen! Der nächste große Baum hinter ihr sollte ihr
erst einmal Zuflucht gewähren. Etwas besseres fiel ihr nicht ein. Und dann, was
sollte sie tun? Ihre Panik war unbeschreiblich. Sie versuchte die Ruhe zu
bewahren, doch das ist immer leichter gesagt als getan mußte sie feststellen.

Am Baum angekommen vernahm sie plötzlich ein Geräusch hinter sich. Ein Schrei
drohte ihrer Kehle zu entweichen, doch ihre Kehle war wie zugeschnürt. Eine Hand
legte sich von hinten auf ihren Mund! Der leichte Druck hinderte Sie aber doch
am schreien. Ihr schluchzen - Sie war in Tränen ausgebrochen - verstummte vor
Angst und Erwartung. Sie konnte sich nicht wehren. Ein Arm, so massiv wie eine
Stahlklaue - zu stark für sie - hinderte sie an jeder Bewegung, legte sich um
ihren Oberkörper und hielt ihre Arme bewegungsunfähig. Sie spürte, wie sie an
jemanden herangezogen wurde. Ihr Körper gab wehrlos auf. Ihr Herzschlag war das
einzigste was sie noch hörte und fühlte - er schien ihren ganzen Körper
auszufüllen. Sie dachte nur, nun - das war´s - es ist vorbei! Es gab keinen
Ausweg. Das war also mein Leben!

Vor ihr erkannte sie einen Mann. Er war ganz in Schwarz gekleidet. Sein Gesicht
hob sich fast fluoreszierend von der sie umgebenden Dunkelheit ab. Sein dunkles
schulterlanges Haar wehte leicht in der kalten Abendluft. Hinzu kam, daß sie
glaubte, seine Augen grünlich leuchten zu sehen ... Sie wollte nur noch sterben.
Die Angst schnürte ihr die Kehle zu - sie glaubte zu ersticken. Sie erstarrte
und glaubte wirklich, jeden Moment vor Angst zu sterben. Doch diesen Ausweg gab
es nicht. Tränen stiegen ihr in die Augen - die Angst die sie fühlte war
unglaublich. Der Mann vor ihr legte ihr die Hand auf die Wange, streichelte sie
leicht darüber und schien liebevoll zu lächeln. Eine Stimme in ihrem Kopf befahl
ihr ruhig zu sein und keine Angst zu haben! Gegen ihren Willen, als ob etwas
Besitz von ihrem Körper ergreifen würde, befolgte sie die Befehle. Es war, als
wenn sich die Stimme mit der Berührung verschmolz und sich gegen ihren Körper
verbündeten. Trotzdem schienen ihre Beine unter ihr nachzugeben, doch der sie
umfassende Arm hielt sie mit Leichtigkeit. Vielleicht bildete Sie sich das nur
ein - nein, und ein Traum war es auch nicht, sagte Ihr eine Stimme in ihrem
Kopf. War das ihre eigene? Sie glaubte verrückt zu werden, jetzt hörte sie schon
fremde Stimmen in ihrem Kopf. Was denn nun noch!?

Jetzt, wo sich völlige Ruhe in ihr ausgebreitet hatte und die Tränen in ihren
Augen langsam versiegten, glaubte sie den Mann der vor ihr stand zu erkennen.
Glaubte ihm irgendwo schon einmal begegnet zu sein - aber wo? Und was sollte das
alles? Was waren das für 2 Typen? "Du kennst uns!" Wieder die Stimme in ihrem
Kopf? Nein, diesmal hat er es selbst gesagt - richtig ausgesprochen, mit einer
Stimme die so gar nichts bedrohliches hatte. Aber woher, dachte sie. "Erinnere
Dich!" Das konnte doch nicht sein. Das war doch gar nicht möglich. In diesem
Augenblick erst fiel ihr auf, daß sie die Gestalten doch eben erst noch auf der
anderen Seite der Lichtung gesehen hatte und es konnten nur wenige Sekunden
vergangen sein, bis sie bei ihr waren. Doch wie war das möglich? Es waren fast
800 Meter Distanz! Es mußte einfach ein Traum sein! Aber es war kein Traum! Das
spürte sie als der Mann vor ihr ihren Kopf leicht zur Seite drehte so das ihr
Hals frei lag und die Gestalt hinter ihr sie los ließ. Zum weglaufen war keine
Zeit. Erst jetzt erkannte sie: ihre Angreifer waren nicht Menschlich! Das merkte
sie erst als es bereits zu spät war!

Er neigte sich langsam ihrem Hals entgegen. Küßte sie leicht und biß ... eine
Welle des Schmerzes überflutete sie. Das kann doch nicht sein, dachte sie. Ihre
Sinne drohten zu schwinden. So etwas gibt es doch gar nicht! Entgegen ihrer
Überzeugung erlebte sie es aber doch gerade. Sie konnte es nicht glauben und
wollte es auch nicht! Einen unvorstellbaren Druck - einen Sog fühlte sie an der
Stelle am Hals, als er von ihr abließ. Nur wenige Sekunden waren vergangen - nur
ein Augenblick. 
Sie riß die Augen auf und sah ihn an. Wieder füllten Tränen ihre Augen. Warum
nur, warum passierte gerade ihr das? "Erinnere Dich!" sagte er. Die zweite
Gestalt, ohne das sie sein Gesicht genauer sehen konnte, lächelte ihr zu. Doch
nun verstand sie gar nichts mehr - hatte nur die Gewißheit, das sie jetzt bald
erlöst sein würde. Die Sehnsucht war zu groß - einfach alles hinter sich lassen.
Keine Probleme mehr, keine Angst. Ja, es war der einzige Ausweg - davon war sie
fest überzeugt. Vielleicht verstand sie ja doch!

Die Erinnerung kam mit einem Schlag. Sie fühlte sich um einige Jahre zurück
versetzt. An jenem Abend, als sie mit zwei ihrer Freundinnen in einem dieser
Nachtlokale war. Es gab etwas zu feiern, sie hatten getrunken. Aus irgendeinem
Grund war sie selbst deprimiert, versuchte es ihre Freundinnen jedoch nicht
merken zu lassen. Irgendwann brauchte sie frische Luft und da war es, das Gefühl
des wiedererkennens. Sie traf die beiden Fremden in jener Nacht zum ersten mal.
ER bat sie damals mitzukommen, ihm zu folgen - ER wollte ihr geben, was sie
suchte - wonach sie sich sehnte und zeigte mit einladender Geste in die Nacht.
Eine ihrer Freundinnen kam zufällig hinaus und hielt sie zurück. Warum hat sie
sie nicht gehen lassen? An mehr konnte und wollte sie sich nicht mehr erinnern.
Es war ihr vollkommen entfallen ... sie wußte es einfach nicht mehr und es
störte sie auch nicht mehr. ER sagte etwas von einem Wiedersehen, zu einem
späteren Zeitpunkt. Das hatte sich erfüllt ... es war soweit. Und sie verstand.

Doch sie dachte nun nichts mehr und gab sich hin. Verabschiedete sich von ihrem
Leben - ohne Angst! Und da war es wieder, dieses Gefühl - erst Schmerz, dann
Genuß und Erlösung bis schließlich alles vorbei war. Sie wollte es so, sonst
hätte sie diesen Weg nicht gewählt, diesen Spaziergang nicht gemacht.

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By
Mary Anne