Die Totenwächterin

(Erster Teil der Serie 'Das Rote Palais'))

Autorin: Helene Henke

Copyright 2008 by Sieben-Verlag Ltd., Fischbachtal

Erstausgabe 2008

Verlag: Sieben-Verlag Ltd., Fischbachtal

ISBN: 978-3-940235-22-0

ISBN-10: 3940235229

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Morde an Vampiren rufen die Detektivin Leyla Barth auf den Plan. Wenn Menschen in Konflikt mit Vampiren geraten, wenden sie sich an Leyla. Deutschland plant den Vampirismus zu legalisieren, doch es gibt Widerstände auf beiden Seiten. Das Multiplexkino Aurodom ist in fester Hand des Meistervampirs der Stadt. Er setzt den Charme eines vollendeten, fünfhundert Jahre alten Gentlemans ein, um Leyla für sich zu gewinnen. Hat er mit den Morden zu tun? Die Ermittlungen führen Leyla zu Thetania e.V., einer als Verein getarnten Sekte, die sich den Schönheitswahn der Menschen zunutze macht und ihren Mitgliedern auf Botox-Partys ewig währende Schönheit anbietet.

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Leseprobe:

Leyla saß in der beheizten Stille ihres Büros. Die lindgrünen Wände sollten beruhigend wirken, doch machten sie den Raum kalt. Die meisten Räume im Polizeipräsidium der Hansawache waren ähnlich gestaltet, was Leylas Kollegen dazu veranlasste, mit Topfpflanzen und Familienfotos eine private Atmosphäre zu schaffen. Leyla legte wenig Wert auf einen heimeligen Arbeitsplatz und wurde von ihren Kollegen belächelt, dass sie die staatlich verordnete Grundausstattung hinnahm. Sie war dabei ihren Computer auszuschalten, als das Telefon klingelte. Sie seufzte kurz und überlegte, das Gespräch nicht anzunehmen. Da auf dem Display die Telefonnummer der städtischen Krankenanstalten zu sehen war, beschloss sie den Hörer abzuheben.

„Hallo Evelyn, hat meine Großmutter dich wieder genötigt, mich anzurufen?“

„Hi Leyla, ja sie fragt schon den ganzen Nachmittag nach dir. Aber das ist okay, ich weiß ja, dass sie ein bisschen wunderlich ist. Außerdem wollte ich dich sowieso anrufen.“

Wunderlich war gut. Ihre Großmutter Cecilie war, solange sie denken konnte, eine seltsame Frau. Nachdem Leylas Mutter sich kurz nach ihrer Geburt aus dem Staub gemacht und den Namen ihres Vaters bis dahin beharrlich verschwiegen hatte, fixierte sich Cecilie auf Leyla. Mit Hingabe füllte sie den Platz, den eigentlich Leylas Eltern hätten einnehmen sollen. Den fantasievollen Spekulationen ihrer Enkelin über das vermeintlich geheimnisvolle Verschwinden ihrer Eltern, trat sie stets mit einem gutmütigen Lächeln entgegen. Sie war dafür verantwortlich, dass Leyla Polizistin geworden war und seit ihrer Kindheit verschiedene Kampfsportarten erlernt hatte. Zeit für Freunde hatte Leyla wenig und entwickelte sich nach und nach zu einer Einzelgängerin. Cecilie wollte nicht auch noch ihre Enkeltochter verlieren und tat alles, um sie zu einer Frau zu erziehen, die stark genug war, sich gegen die dunklen Gestalten in einer täglich verrückter werdenden Welt zur Wehr setzen zu können.

„Sag ihr bitte, dass ich nachher vorbeikomme.“

„Mach ich, und Leyla, kommst du später noch in mein Büro?“

Leyla lächelte, weil sie sich vorstellen konnte, dass Evelyn sie überreden wollte, anlässlich ihres vierzigsten Geburtstags auszugehen. Evelyn war Allgemeinärztin und ihre beste Freundin. Obwohl Leyla es hasste auszugehen, würde sie in diesem besonderen Fall eine Ausnahme machen. Nachdem sie das Gespräch beendet hatten, lehnte sich Leyla in ihrem Stuhl zurück und schloss für einen Moment die Augen. Sie liebte ihre Großmutter und war ihr dankbar, dass sie sich in ihrem hohen Alter um den Haushalt kümmerte. Dass sie auf eine Leiter steigen musste, um Gardinen aufzuhängen, anstatt auf Leyla zu warten, war typisch für Cecilie. Leyla konnte sich so voll und ganz auf ihren anstrengenden Beruf konzentrieren. Inwieweit das überbehütende Verhalten ihrer Großmutter mit dem Verschwinden ihrer Mutter zu tun hatte, hatte sie bislang nicht herausgefunden. Sie sprach nicht über die ‚dunklen Gestalten‘, wie sie es nannte, mit denen sie eindeutig Vampire meinte und deren Existenz sie zu ignorieren versuchte. Leyla schüttelte in Gedanken den Kopf über diese Eigenart, die viele Menschen in der Bevölkerung mit Cecilie teilten. Doch Leyla konnte es sich nicht erlauben, den Kopf in den Sand zu stecken. Es gab Vampire, und daran ließ sich nichts ändern.

Vor ein paar Jahren hatte es einen Präzedenzfall gegeben. Aufgrund dessen änderte sich die Vorstellung über das Leben und den Tod. Deutschland war auf dem besten Weg, wie die Niederlande, den Vampirismus zu legalisieren. Die entsprechenden Gesetzesentwürfe lagen bereits vor und es war nur eine Frage der Zeit, wann sie verabschiedet werden würden. Schon seit Beginn der Diskussionen im Parlament hatte das Einwanderungsamt einiges mehr zu tun, um zahllose Vampire, vor allem aus den osteuropäischen Ländern, davon abzuhalten, sich hier niederzulassen. Als nächstes würde die Frage aufkommen, ob Vampire wählen dürfen. Die ersten liberalen Vereine hatten sich schon gegründet.

Ein Klopfen riss Leyla aus ihren Gedanken und ehe sie etwas erwidern konnte, wurde die Tür geöffnet und Hauptkommissar Rolf Fuhrmann betrat den Raum.

„Es ist soeben eine Meldung reingekommen. Es gab einen Vorfall auf dem Güterbahnhof. Kommst du mit?“

„Selbstmord?“

„Nein, dieses Mal nicht. Es gibt zwei Leichen. Ich glaube nicht, dass es sich um zwei Lebensmüde handelte.“ Tote auf den Gleisen waren erfahrungsgemäß Selbstmörder, vor allem wenn es sich um die abgelegenen Bereiche des Güterverkehrs handelte. „Ich weiß, du hast Feierabend. Ich dachte, ich frage mal, falls wir es dort mit Speziellem zu tun bekommen.“

Damit waren die paranormalen Fälle gemeint, in denen Rolfs Einheit vorwiegend ermittelte. Rolf war kräftig gebaut und überragte die meisten seiner männlichen Kollegen um eine Haupteslänge. Seine dunklen Haare waren ordentlich geschnitten und zeigten das attraktive Gesicht eines Mittvierzigers. Aufgrund seiner Gabe mit speziellen Fällen umzugehen, wurde ihm die Leitung der neuen Spezialeinheit des Bundesnachrichtendienstes übergeben. Die neue Gesetzeslage erforderte eine Abteilung, die mit übernatürlichen Fällen betraut wurde. Als Privatdetektivin hatte Leyla mehr Handlungsfreiheiten und musste nicht jeden Schritt von ihrem Vorgesetzten absegnen lassen. Obwohl Leylas Auftragslage als Detektivin ausreichend war, arbeitete sie nebenbei als Honorarkraft in ihrem alten Beruf. Sie kam einmal in der Woche zur Hansawache, um ihre Berichte für Kommissar Fuhrmann zu schreiben. Das Gebäude lag ein paar Gehminuten von ihrer Detektei entfernt. Ihr Dienst war für heute beendet, und Rolf konnte durch sie unbürokratisch feststellen lassen, ob es sich um ein menschliches oder paranormales Vergehen handelte.

„Lass uns gehen“, sagte Leyla. „Ich muss nachher noch ins Krankenhaus.“

„Cecilie?“ Leyla nickte. „Wollte sie wieder das Haus renovieren?“

„So könnte man es nennen. Sie hat sich in den Kopf gesetzt, im ganzen Haus große Fenster einbauen zu lassen, damit genug Tageslicht einfällt. Sie hat Gardinen gewaschen.“

„Ich bin sicher, dass sie wieder auf die Beine kommt. Deine Oma wird hundert Jahre“, sagte Rolf und deutete ein Lächeln an.