Der Gottvampir

(Zweiter Teil der Serie 'Das Rote Palais'))

Autorin: Helene Henke

Copyright 2009 by Sieben-Verlag Ltd., Fischbachtal

Erstausgabe 2009

Verlag: Sieben-Verlag Ltd., Fischbachtal

ISBN-13: 978-3940235831

ISBN-10: 3940235830

*

*

Man nennt ihn Bragi – der Name des altgermanischen Gottes der Dichtkunst. Und tatsächlich scheint er mehr zu sein als ein Vampir. Der exzentrische Rockstar versteht es mit seiner Musik Menschen und Vampire gleichermaßen zu begeistern. Ob sein Auftauchen in Krinfelde etwas mit dem neuesten Fall von Privatdetektivin Leyla Barth zu tun hat, bleibt abzuwarten. Fest steht, dass Thetania e. V. weiterhin seiner Geschäfte nachgeht, ungeachtet dessen, dass Leyla und der Meistervampir Rudger von Hallen schon einmal der Sekte in ihr nicht immer blütenreines Handwerk gepfuscht haben. Nicht nur das, Thetania expandiert. Neben Schönheitsoperationen finden sie einen Weg, das Geheimnis des ewigen Lebens zu erforschen, was dazu führt, das nicht immer Menschen die Opfer sind, sondern auch Vampire. Doch ein Unglück kommt selten allein. Die geheimnisvolle Vampirin Iduna erscheint auf der Bildfläche und wirft einen Schatten auf die junge Beziehung zwischen Leyla und Rudger.

*

Leseprobe:

Kapitel 6

Nach jedem Konzert verlangte es Bragi nach einer Dusche. Er stand vor dem Spiegel und rieb das Handtuch mit bedächtigen Bewegungen über sein Gesicht. Dabei ließ er sich Zeit. Es bestand kein Grund zur Eile, weil seine Fans trotz später Stunde geduldig auf warten würden, in der Hoffnung, ein Autogramm zu ergattern. Manchmal kehrte er überhaupt nicht zurück, weil ihm danach war, eine Frau mit auf sein Zimmer zu nehmen. Doch selbst wenn er erst am nächsten Abend wieder sein Hotel verlassen würde, verharrten einige von ihnen hartnäckig auf der Straße. Einfältige Menschen. Sie begriffen nicht, dass er bei Tag nicht erscheinen würde. Er strich sein glänzendes, schwarzes Haar nach hinten. Dabei fuhren seine Finger über die hohen Wangenknochen. Seine Haut fühlte sich fest und glatt an, selbst dort wo sein Bart wuchs. Er konnte Stunden damit zubringen, sein Spiegelbild zu bewundern. Der perfekte Schwung seiner Brauen faszinierte ihn stets aufs Neue. Zu seiner Zeit als Sterblicher, hatte Eitelkeit als Sünde gegolten. Doch nun lebte er in einer Welt, die überquoll vor Menschen, die sich Schönheit und Jugend zum höchsten Gut erkoren hatten. Er hätte es nicht besser treffen können und war dankbar für seine Unsterblichkeit. Noch dankbarer war er für seine neuerworbene Fähigkeit, endlich wieder sein Antlitz betrachten zu können. Das Dasein als Vampir hatte durchaus Vorzüge, auch wenn man sich erst nach Jahrhunderten daran gewöhnte. Es dauerte seine Zeit, bis man diesen jämmerlichen Rest von Menschlichkeit aus seinem Innern verbannt hatte und endlich zu dem wurde, was man war. Jedoch der Verzicht, sich selbst betrachten zu können, war ihm unerträglich geblieben. Welch erhebendes Gefühl es war, als er sich zum ersten Mal dabei beobachten konnte, wie er ein Opfer vor dem Spiegel riss. Der Rausch war in seinem Kopf explodiert, als er nicht nur fühlte, sondern sah wie sich seine messerscharfen Reißzähne in den Hals des Mädchens bohrten. Nie zuvor konnte er gleichzeitig in die angstgeweiteten Augen seines Opfers blicken, während seine Fänge mit Leichtigkeit Haut, Muskeln und Knorpel durchtrennten. Wie sehr hatte er vermisst, sein Antlitz im Spiegel länger zu betrachten, als in den wenigen Minuten des Zwielichts. Das schillernde Lichtspektakel, das sich ihm aufgrund der vampirischen Aura ansonsten im Spiegel bot, empfand er als schwachen Trost. Erst seit er diese jämmerliche Gestalt in seinem Körper duldete, konnte er sich wieder solange betrachten, wie es ihm gefiel.

Seine tiefbraunen Augen blickten ihm entgegen. Wie große Mandeln hatten sie die perfekte Form und strahlten, wenn er es wollte. Er sah sich zufrieden lächeln, und hätte das Aufflammen in seinem Blick beinahe übersehen. Mit geweiteten Augen beugte er sich vor. Langsam wurde das satte Braun von einem wässrigen, hellblauen Ton überzogen, bis er in die glanzlosen Augen des anderen blickte. Seine Hände umschlossen fest den Beckenrand. Er spürte mehr als dass er sah, wie sich seine Lippen aufeinander pressten. „Verzieh dich Bragi!“, presste er hervor. Seine Stimme hallte in dem gekachelten Bad wider. „Hast du es noch immer nicht kapiert? Mach, dass du weg kommst, sonst zerfleische ich heute Nacht mindestens drei Groupies.“

Ein klagendes Jaulen entrang seiner Kehle. Wie er dieses Geräusch verabscheute. Seine Gesichtszüge verzerrten sich, zerstörten das perfekte Antlitz. Unbändiger Zorn stieg in ihm auf. Mit voller Wucht traf seine Faust auf den Spiegel, der zerbarst. Scherben flogen durch den Raum. Das Jammern verebbte und wich zurück in die Tiefen seiner unsterblichen Seele.

„Geht doch.“

Selbstzufrieden grinste er sich in einer übriggebliebenen Spiegelscherbe zu. Das wirkte immer. Allein die Androhung einen Menschen zu töten, ließ diesen einst mächtigen Gott in sich zusammenschrumpfen wie eine halberschlagene Spinne.

Seit zweihundert Jahren teilte er seinen Körper mit einem altgermanischen Gott. Dass die Götter einst die Menschen zu ihrer eigenen Unterhaltung geschaffen hatten war lachhaft. Ebenso wie sie ihre schwächlichen Sterblichen hätschelten und verwöhnten wie Schoßhündchen. Verziehen ihnen jede Schandtat, und holten sie sogar nach Asgard, wenn sie als Helden auf ihren Schlachtfeldern gefallen waren. Ausnahmslos waren sich die Götter einig, selbst als ihre Menschen sich immer mehr verselbstständigten. Den lächerlichen Zwang der Menschen, alles erforschen zu wollen, sahen sie nicht als Gefahr. Mit nachsichtigem Stolz ließen sie die Menschen gewähren, und merkten nicht, dass sie damit ihren eigenen Untergang besiegelten. Denn die Menschen hörten irgendwann auf, an Götter zu glauben. Anstatt Midgard, die Menschenwelt, zusammen mit ihren minderen Bewohnern zu zerstören, beschlossen die Götter, hinab zu fahren, wenn ihnen nach der Gesellschaft mit ihren Schützlingen zumute war. Da die Götter in der Menschenwelt über keinen physischen Körper verfügten, liehen sie sich bei ihren Besuchen unbedacht menschliche Körper. Doch zu ihrem Entsetzen, waren ihre einst so zähen Geschöpfe mit einem Mal zerbrechlich. Sie starben nach kurzer Zeit, wenn sich einer der Götter ihrer bemächtigt hatte. Ihre vergänglichen Hüllen vermochten nicht die übermächtige Gestalt der Götter zu beherbergen. Sie zerbrachen wie schöne Gläser, in die man zu heißes Wasser füllte; dazu bedurfte es zinnene Krüge.

Zu gern hätte Bragi gewusst, welcher dieser törichten Götter auf die Idee gekommen war, dass die Körper von Vampiren stark genug waren, einen Gott zu beherbergen. Vampire waren die Geschöpfe von Hel, Göttin der Unterwelt. Aus ihrem Zorn geboren, weil die Götter es gewagt hatten, darüber zu entscheiden, wer von ihren hochgelobten Menschlein an der Pforte zum Totenreich kehrt machen durfte und wer nicht. Damit erzürnten sie die gute Hel, und sie wählte die Stärksten ihrer Verdammten, um sie zurückzuschicken. Sie gab ihnen sowohl das ewige Leben als auch die unbändige Lust nach menschlichem Blut mit auf den Weg.

Im angrenzenden Umkleideraum stieg er in seine Jeans. Locker schloss er den Gürtel um seine Hüften und zog den Bund noch etwas tiefer, bis er mit dem Ansatz der Schambehaarung abschloss. Sein Hinterteil formte sich schmeichelnd unter dem Stoff, wie der gegenüberliegende Spiegel zeigte.

Die Götter in Asgard vermochten es nicht zu verhindern, dass die Menschen taten was sie immer taten. Sie töteten und wurden getötet. Die Vampire blieben unter ihnen. Als Wesen der Nacht nahmen sie die dunkle Seite des irdischen Daseins in Besitz. Irgendwann hörten die Menschen auch damit auf, gegen Vampire zu kämpfen und beschlossen, sie zu einem Mythos zu erklären. Das machten sie gern, die Menschen.

Bragi entfuhr ein höhnisches Schnaufen, als er ins Badezimmer zurückging. In den letzten Jahrhunderten hatte er oft erlebt, wie Menschen beim Anblick eines überwältigten Vampirs unaufhaltsam nach einer Erklärung suchten. Statt der Wahrheit ins Auge zu blicken und die Existenz von Vampiren zu akzeptieren, erfanden sie zahlreiche amüsante Ausflüchte, von Blutkrankheiten bis Wahnsinn.

Mit fortschreitender Technisierung der Menschenwelt wuchsen die schillerndsten Definitionen für das Unerklärliche. Mittlerweile hatten sie zumindest gelernt, dass sie nicht allein auf der Welt waren. Sie versuchten sogar Regeln aufzustellen. Ein kläglicher Versuch, sich den Vampir untertan machen zu wollen, ihn ihren Gesetzen zu unterwerfen. Aber das interessierte ihn nicht besonders.

Mit einem gezielten Griff zog er ein Hemd aus dem Stapel, streifte es über und machte sich daran, nur die mittleren Knöpfe zu schließen, damit noch genug nackte Haut sichtbar blieb. Er hatte seinen persönlichen Kampf gewonnen, und den göttlichen Mitbewohner in seine Schranken verwiesen wie einen Flaschengeist. Der Kampf hatte ein paar Jahrzehnte gedauert. In dieser Zeit hatte er andere Vampire getroffen, in deren Körper zwei Persönlichkeiten wohnten. Immer hatten sie sich damit abgefunden und sich der Macht des Gottes in ihnen gebeugt.

Der Vampir-Bragi war dazu nicht bereit. Er hatte Glück, denn er fand heraus, dass der Gott-Bragi zwar ein hohes Ansehen im stolzen Kreis der Asen genossen hatte, aber kein Freund von Waffengetümmel und Kampf war. Er verfügte über die Gabe der Dichtkunst, des Gesangs und der Beredsamkeit. Er war ein Poet und schwach genug, um an der blutigen Leidenschaft seines vampirischen Wirtkörpers nach und nach zu zerbrechen.

Je mehr Mädchen er schändete und aussaugte, desto weiter zog sich dieser jammervolle Sohn des Odin zurück. Nun war kaum noch etwas von seiner göttlichen Kraft übrig, außer der lenkbaren Gabe des Gesangs. Sobald er auf der Bühne stand und eine Note anstimmte, konnte er den Poetengott beschwören und sich seiner göttlichen Gabe bedienen. Er war nun Bragi der Vampir mit einer wahrhaft göttlichen Stimme. Ein auf der ganzen Welt umjubelter Rockstar. Wenn sein göttlicher Mitbewohner doch noch hin und wieder aufbegehrte, konnte er ihn schnell wieder in seine Schranken weisen, indem er sein nächstes Opfer mit besonderer Grausamkeit tötete.

Zufrieden betrachtete er seine wieder entspannten Gesichtszüge. Die Gottheit hatte sich zurückgezogen. Geblieben waren lediglich der Name Bragi, und diese unbestimmte Sehnsucht, die diesen Gott in ihm so schwach machte. Bragi schloss die Augen bei dem Gedanken an das berauschende Gefühl, das ihn überkam, wenn er auf der Bühne stand und sang. Für diese Momente ließ er seinen Dschinn heraus und gab sich voll diesen intensiven Empfindungen hin, mit dessen Kraft er zauberhafte Klänge schaffen konnte. Es war die Kraft der einzigartigen Liebe.

Eine Frau, die der Gott-Bragi auf Erden gesucht und nie gefunden hatte.

Er konnte es fühlen, das Herzblut des Poeten, und wusste, dass diese Frau nichts gemein hatte, mit den zahlreichen Dirnen und halbwüchsigen Mädchen, die den Rockstar umgaben. Vielleicht war das auch einer der Gründe, dass der Vampir den Gott bezwang. Aber er wollte das nicht weiter analysieren. Hauptsache war, Bragi gab Ruhe und stand nicht seiner Karriere im Weg. Sollte er doch in seinem Liebesleid ersticken. Ihn scherte das nicht, denn die ganze Welt könnte ihm bald zu Füßen liegen und er hatte nicht vor, sich aufhalten zu lassen.

Er stupste die letzte Scherbe aus dem Goldrahmen. Sie zerschellte klirrend im Marmorwaschbecken. Der Hofgarten war das teuerste Hotel in Krinfelde und nicht das erste, in dem Bragi einen Sachschaden hinterließ. Man war daran gewöhnt, dass dekadente Rockstars Möbel und Fenster zerstörten. Seine Manager würden sich darum kümmern.

Sie kamen in Scharen, um in seiner Nähe zu sein, hielten ihm alles mögliche Beschreibbare hin, damit er sein Autogramm darauf setzen konnte. Gelangweilt setzte er seine kaum leserliche Unterschrift auf die dargereichten Karten, CDs, T-Shirts und was noch alles. Ein vielleicht fünfzehnjähriges Mädchen, drängte sich in den Vordergrund und bot ihm ihren nackten Bauch an.

„Schreib es mit Blut“, forderte sie.

Bragi stutzte und blickte der Kindfrau in die schwarz umrandeten Augen. Eine kleine Kennerin. Wären sie in einer anderen Lokation, hätte er nicht gezögert, ihr vor alle Augen mit seinem scharfen Fingernagel den Namen in die zarte Haut zu ritzen. Doch er befand sich im Roten Palais, und Rudger von Hallen hatte seine Bedingungen genannt. Diese Auflagen schränkten ihn zwar nicht so ein, wie er es von kommerziellen, menschlichen Veranstaltungsorten gewohnt war, schlossen aber dennoch Blutvergießen in jeglicher Form aus. Zwar passte ihm das nicht so ganz, doch er wollte sich auch nicht mit dem Meister der Stadt anlegen. Der galt als mächtig und hatte sein Gebiet fest im Griff. Außerdem verfügte Rudger über Beziehungen zu zahlreichen anderen Meistervampiren in Europa, sodass Ärger mit ihm zumindest Unannehmlichkeiten mit sich ziehen würde. Das war ihm zu lästig. Für ein paar Tage konnte er sich zusammenreißen. In der nächsten Stadt würde er dann wieder nach eigenen Vorstellungen agieren.

„Ein anderes Mal“, raunte er dem Mädchen zu, und zog mit einem Filzstift seinen Namenszug über die weiße Haut.

Er riss seinen Blick von dem schwarz geschminkten Schmollmund los und beobachtete eine Frau am Ende des Ganges. Sie unterhielt sich mit einem Angestellten. Nach dem Konzert hatte er sie an der Seite seines Gastgebers gesehen. Es musste die Auserwählte des Meistervampirs sein. Die Totenwächterin. Das pfiffen die Spatzen von den Dächern. Eine Sterbliche hatte das Herz des Vampirs erobert. Man sah es in seinen Augen. Obwohl es vor Leuten gewimmelt hatte, schienen die beiden von einem unsichtbaren Kokon umgeben gewesen zu sein. Vollkommen in ihrer Zweisamkeit.

Tief in Bragi regte sich sein verbannter Gott und sandte eine warme Salve durch seinen Körper. Er spürte ein Gefühl in sich aufsteigen, dessen Bedeutung er längst vergessen hatte. Seine innewohnende Persönlichkeit hatte gewagt aufzubegehren und versuchte, es hinauszuschreien. Bragis Geist füllte sich mit den Gedanken des anderen. Seine Haut prickelte, als sich das Wort in seinem Kopf formte: Liebe. Bedingungslos in ihrer reinsten Form.

Das Gefühl ekelte ihn an. Er musste etwas unternehmen. Für einen Moment schloss er die Augen. Entfernt hörte er seine Fans entzückt aufkreischen. Offenbar hielten sie sein Verhalten für eine besondere Form der Aufmerksamkeit. Einfältiges Pack. Es war der ständige, müßige Kampf, den er gegen diesen Gott Bragi führte, um diesen erneut in seine Schranken zu weisen.

 *

Mit einem Seitenblick sah Leyla, wie Bragi mit der Hand eine bestimmende Geste vollzog. Auf der Stelle zogen seine Fans die dargereichten Autogrammkarten zurück. Einige von ihnen senkten sogar demütig den Kopf und traten beiseite. Mit geübter Eleganz schritt er durch die Schneise, die sie für ihn bildeten. Seine Augen waren unmittelbar auf ihre gerichtet, als würde er sie in sein Beuteschema einordnen. Nachdem Rudger nach Belgien gefahren war, hatte sie beschlossen, sich Bragis Umfeld etwas näher anzusehen. Rudger in der Nähe zu wissen, wäre zweifelsohne beruhigender gewesen. Zumal der Rockstar eine unterschwellige Gefahr ausstrahlte, die ihre Nervenenden erzittern ließen und sie in Alarmbereitschaft versetzten. Anderseits war sie es gewohnt bei Ermittlungen auf sich selbst gestellt zu sein. Bragis Blick schoss über den Gang und haftete sich mit einem wissenden Ausdruck auf Leyla. Sein Haar schimmerte unter der Deckenbeleuchtung pechschwarz wie das Gefieder einer Krähe. Dunkelbraune Augen in dem ebenmäßigen bleichen Gesicht, bildeten einen scharfen Kontrast zu seinem bleichen Teint. Keine einzige Hautunebenheit war zu erkennen. Seine Hand streckte sich ihr zum Gruß entgegen und wirkte wie gemeißelt. Schwarz lackierte Fingernägel unterbrachen die Blässe.

„Leyla Barth, die Walakuzjæ, es ist mir eine Ehre.“

Seine Sprechstimme war ebenso tief wie sein Gesang und passte nicht zu seiner jugendlichen Ausstrahlung. Sie ergriff seine Hand und erwiderte den festen Händedruck. Eine leichte Gänsehaut überzog ihren Rücken und ließ seine erotische Wirkung auf Frauen erahnen. Aus der Nähe betrachtet wirkte seine gerade Nase einen Hauch zu lang. Die geschwungenen Lippen mochten zu Lebzeiten rosig gewesen sein.

„Schön, Sie kennenzulernen. Es trifft sich gut, dass wir uns hier treffen, denn ich hätte Ihnen gern ein paar Fragen gestellt.“

„Ich stehe Ihnen selbstverständlich zur Verfügung Ma’am. Womit fangen wir an?“

„Vielleicht damit, dass Sie zunächst mal meine Hand loslassen.“

„Verzeihen Sie, dabei ist es gar nicht meine Art, Leute zu berühren.“

Ein jungenhaftes Lächeln erschien auf seinem Gesicht und strafte seine Worte Lügen. Hinter ihm erklang das verhaltene Jauchzen einiger junger Mädchen.

„In Rudgers Büro können wir uns ungestört unterhalten“, schlug sie vor.

Bragi nickte und folgte Leyla. Hinter ihnen kreischten seine Fans.

Das Büro befand sich auf derselben Ebene wie das Rote Palais und war ein umfunktionierter Kinosaal. Die Etage des Vampirbereichs war mit denselben Räumlichkeiten ausgestattet, wie die beiden unteren Kinoebenen des Aurodom. Bisher hatte sie nur im Vorbeigehen einen Blick dort hinein geworfen. Bevor ihre Hand die Türklinke erreichte, griff Bragi an ihr vorbei und öffnete die schwere Eichentür. Mit einer galanten Verbeugung ließ er ihr den Vortritt.

„Der Meistervampir ist sich Ihrer sehr sicher. Er lässt Sie mit mir allein.“ Bragi sprach ohne sich zu ihr umzudrehen.

„Ich kann auf mich aufpassen“, entgegnete Leyla abwesend und blickte sich im Raum um.

Sie kannte Rudgers Penthouse mit seinen wundervollen Antiquitäten. Doch die Einrichtung seines Büros war umwerfend. Die erlesene Einrichtung und die mit Mahagoni getäfelten Wände, ließen den fensterlosen Raum wie aus einer anderen Zeit wirken. Zahlreiche Bücherregale waren als Raumteiler aufgestellt und verloren sich in der Dunkelheit des weiträumigen Saals. Einige Bücher mit ledernem, altmodischem Einband, lagen auf dem massiven Schreibtisch gestapelt. Ihre Rücken völlig staubfrei. Leyla konnte nicht alle Titel entziffern, da es sich um mehrere Sprachen handelte. Viele wiesen fremdartige Symbole auf und wirkten wie Zauberbücher. In einer schwach beleuchteten Ecke stand eine lederne Sitzkombination vor einem überdimensionalen, reich verzierten Kamin. Wenn sie sich richtig erinnerte, war es die Stelle, an denen sich in den Sälen die Leinwände befanden. Der Raum strahlte trotz seiner Größe Behaglichkeit und Wärme aus.

Wie ein Platzhirsch im neuen Revier hatte Bragi sich auf Rudgers Sessel hinter dem Schreibtisch niedergelassen. Seine Ellenbogen angewinkelt, faltete er seine Hände wie zum Gebet. Die langen Zeigefinger lagen aufrecht einander und tippten gegen sein Kinn. Leyla bemerkte seine weiblich anmutenden Wimpern, als sie sich auf den gegenüberliegenden Platz setzte.

„Die Polizei untersucht den Mordfall an zwei jungen Mädchen. Der Zustand der Leichen lässt auf ein eher bizarres Motiv schließen, nicht zuletzt aufgrund der identischen Tätowierungen an ihren Körpern. Es besteht die Möglichkeit, dass es sich bei den Toten um Gothics handelt, also Mitglieder einer jugendlichen Subkultur, in deren Kreisen besonders Ihre Musik großen Anklang findet. Können Sie mir dazu etwas sagen?“

„Bizarr“, wiederholte er, als würde ihm das Wort besonders gut gefallen. „Ich dachte, Sie arbeiten in Vampirangelegenheiten?“

„Beantworten Sie einfach meine Fragen, Bragi. Umso schneller sind wir fertig. Wo waren Sie gestern Nacht?“

„Sie verdächtigen mich, weil ich neu in der Stadt bin.“ Tiefschwarze Augenbrauen hoben sich langsam. „Ich hinterlasse keine Leichen.“

Das war deutlich. Dann gehörte Bragi zu den Vampiren, die sich selbstverständlich an Menschen nährten und keine Spuren hinterließen. Abgesehen davon war ein Schussopfer nicht die Handschrift eines Vampirs. Es lag auch nicht in ihrer Macht, einen Vampir für sein Fehlverhalten zur Verantwortung zu ziehen. Schon gar nicht, wenn er damit hausieren ging. Für derartige Regelverstöße war der Meistervampir zuständig. Wenn sie ihn auf frischer Tat ertappen würde, könnte sie ihn auf der Stelle vernichten. Da dem im Moment nicht so war, beschloss sie, seine provozierende Äußerung zu ignorieren.

„Ich wiederhole, wo waren Sie gestern Nacht?“

„Ich hatte einen Auftritt, dafür gibt es genug Zeugen.“ Sein gelangweilter Tonfall, passte zu seiner selbstgefälligen Miene.

„Ich kann mir gut vorstellen, dass es Ihnen nicht an Zeugen mangelt. Ihre Bandmitglieder halten vermutlich treu zu Ihnen.“

„Ich habe keine Band. Für jeden Auftritt stelle ich mir einen neuen Trupp zusammen.“

Er lehnte sich mit einem mephistolischen Lächeln zurück. Er war sich seiner Anziehungskraft bewusst, und sie konnte ihm seine Attraktivität nicht absprechen. Er verstand es, seine Attribute aus jugendlicher Schönheit und der Erfahrung von Jahrhunderten perfekt einzusetzen.

„Tatsächlich? Anscheinend wimmelt es nur so von musikalischen Talenten.“

„Absolut nicht. Sobald sie meine Aufmerksamkeit auf sich ziehen, übertrage ich ihnen die Fähigkeit, jedes erdenkliche Instrument zu bedienen.“

„Mit anderen Worten, während ich hier mit Ihnen sitze, könnte ich gleichzeitig Ukulele spielen?“

„Ein ausgezeichnete Wahl. Möchten Sie es versuchen?“

„Genug geplänkelt. Wie lautet Ihr richtiger Name?“

Schatten huschten über Bragis selbstgefälliges Antlitz. Sein Lächeln erstarrte. Für einen Augenblick ließ ein unsicheres Zwinkern seine Lider flattern. Erstaunt beobachtete sie das kaum sichtbare Mienenspiel, als wäre ein Vorhang von seinem Gesicht gezogen worden. Für einen Moment wirkte er unsicher und sah dabei so unschuldig aus wie ein Kleinkind. Das war mehr als eine Stimmungsschwankung. Es schien, als wäre er mit einem Mal eine völlig andere Person.

„Bragi. Ich heiße Bragi.“