Einführung/Interpretation Faust I und Faust II

Als Goethe im August 1831 mit dem noch fehlenden vierten Akt den zweiten Teil seines Faust abgeschlossen hatte, sagte er zu Eckermann: »Mein ferneres Leben [...] kann ich nunmehr als reines Geschenk ansehen, und es ist jetzt im Grunde ganz einerlei, ob und was ich noch etwa tue.« (Eckermann: Gespräche mit Goethe, 6. Juni 1831). Am endgültigen Text hat er noch buchstäblich bis zum Vorabend seines Todes gefeilt. Wenige Tage nachdem er das Manuskript im März 1832 als definitiv vollendet zusiegelte mit dem Hinweis, es erst nach seinem Tode zu veröffentlichen, starb Goethe. Bedenkt man, daß erste Entwürfe zur Gelehrten- und Gretchen-Tragödie bereits ab 1772 entstanden waren, so kann man mit Fug und Recht sagen, daß die Arbeit am Faust – natürlich oft mit jahrelangen Unterbrechungen – fast sechs Jahrzehnte und mit Sturm und Drang, Klassik und Romantik schon rein zeitlich drei Epochen der deutschen Literaturgeschichte umfaßt. Wenn für die Zeit zwischen etwa 1770 und 1830 in der deutschen Geistesgeschichte die Epochen-Bezeichnung Goethezeit gerechtfertigt ist, so vor allem durch dieses eine epochenübergreifende Lebenswerk.

Dem Stoff vom Dr. Faustus war Goethe schon in seiner Frankfurter Kindheit in Form des Puppenspiels begegnet. Es war eine ganz auf gruselige Geister- und Beschwörungsszenen abhebende Bearbeitung des Volksbuchs Historia von D. Johann Fausten, dem weitbeschreyten Zauberer vnnd Schwartzkünstler aus dem Jahr 1587 (einer reformatorischen Kampfschrift gegen Teufelsbündelei, Magie und Aberglaube, gleichzeitig eines der ersten Bestseller seit Erfindung des Buchdrucks). Dieses Volksbuch geht seinerseits auf eine legendäre Figur zurück: auf den angeblich um 1480 in Knittlingen geborenen Faust, der als Arzt, Quacksalber und Zauberer berühmt oder berüchtigt wurde und auf schreckliche Weise ums Leben gekommen sein soll; schon die Zeitgenossen interpretierten seinen mysteriösen Tod auf einen Teufelsbund hin.

Der Engländer Christopher Marlowe hatte den Stoff bereits 1593 dramatisch bearbeitet; die Aufklärung dagegen konnte mit der Faust-Gestalt wenig anfangen: Für sie war Faust lediglich ein lächerlicher Scharlatan und Zauberkünstler (was der historischen Warheit sicher nahekommt). Doch schon Lessing stellt die Figur in seinem Faust-Fragment (1759) in ein positiveres Licht und läßt sie am Schluß von Engeln erretten. Daß die Sturm-und-Drang-Generation in ihrem anti-aufklärerischen Impetus und ihrer Vorliebe für den tragischen Ausnahme-Menschen in Faust eine Symbolgestalt für ihre eigenen Bestrebungen nach Befreiung aus den Zwängen religiöser und gesellschaftlicher Normen erblickte, ist kaum verwunderlich. So schrieb Friedrich Müller (»Maler Müller«) 1778 ein unvollendetes Drama Doktor Fausts Leben und Tod dramatisiert; und auch Friedrich Maximilian Klingers Roman Fausts Leben, Taten und Höllenfahrt aus dem Jahr 1791 wurzelt noch in der Sturm-und-Drang-Rezeption der Faust-Figur.

Goethes erste Beschäftigung mit diesem Stoff fällt also nicht zufällig in die diese Zeit. Dokumentiert ist diese erste Phase durch den Text des sogenannten »Urfaust«, der erst 1887 in einer Abschrift des Hoffräuleins von Göchhausen wiederaufgefunden wurde. Er dürfte zwischen 1772 und 1775 entstanden sein, in einer Zeit, in der Goethe auch die Akten des Prozesses um die 1772 in Frankfurt hingerichtete Kindsmörderin Susanne Brandt studiert hat, deren Schicksal sicher den authentischen Hintergrund für die Gretchen-Handlung abgab. 1790 veröffentlichte Goethe eine Bearbeitung dieses ersten Entwurfs unter dem Titel Faust, ein Fragment. In den Jahren seiner Freundschaft mit Schiller fügte er den »Prolog im Himmel« und die Paktszenen hinzu. Schon um 1800 waren Bruchstücke des II. Teils entstanden, die Goethe zwischen 1825 und 1831 planmäßig ausarbeitete und vollendete. 1827 veröffentlichte er in der »Ausgabe letzter Hand« den Helena-Akt mit dem Untertitel »Klassisch-romantische Phantasmagorie«, 1828 die Szenen am Kaiserhof. Der endgültige Abschluß des II. Teils erfolgte, wie gesagt, in seinen letzten beiden Lebensjahren.

Nach der Lektüre – vor allem des zweiten Teils – befällt den Leser zunächst einmal eine gewisse Ratlosigkeit. Er erwacht aus der Fülle der Gesichte, reibt sich die Augen und fragt sich besorgt: Was ist nun der Sinn des Ganzen? Ist es überhaupt 'ein Ganzes', oder haben wir es mit disparaten Einzelszenen zu tun, die mehr oder weniger mühsam zu einer durchgehenden Handlung verknüpft sind? Wie verhält sich der erste zum zweiten Teil? Was ist zeitabhängig, und welche Aussagen sprechen uns auch heute noch unmittelbar an? Wieviel an geistesgeschichtlichem Wissen bedarf es überhaupt, den Faust zu 'verstehen'? Sicher gibt es wenige Werke der Weltliteratur, über die mehr und Widersprüchlicheres geschrieben worden ist als über den Faust. Bis heute ist sich die Fachwelt bis in Einzelaspekte hinein nicht einig, was nun von alledem zu halten sei.

Und doch: Wer sich, unbeeindruckt von dem monströsen Aufwand an Interpretationsmodellen, ganz der Lektüre überläßt, wird feststellen, daß eine Annäherung an dieses Werk nicht unabdingbar an philologische Spezialkenntnisse gebunden ist.

Zu allererst ist dabei mit zwei immer wieder behaupteten Vorurteilen aufzuräumen: Erstens, die Figur des Faust verkörpere einen 'genialen' Menschentypus; zweitens: das 'Faustische' sei eine irgendwie 'dem deutschen Wesen' immanente Problematik. Zum Genialen nur soviel: Daß Faust allerlei zu Ende studiert hat, bis er an die Grenzen der menschlichen Erkenntnis stößt, ist dramaturgisch notwendig. Denn einem Oberbuchhalter 'Müller zwo' würde man seine Verzweiflung an der menschlichen Erkenntnisfähigkeit nicht abnehmen, nur weil sich das Weltganze nicht ohne weiteres mit den Kategorien von Soll und Haben begreifen läßt. Es bedarf also einer Figur, die geistig die menschlichen Möglichkeiten bereits ausgeschöpft hat. Anders gewendet: die Begrenztheit der menschlichen Erkenntnis könnte nicht an einer von vornherein durch ihre individuelle Borniertheit eingeschränkten Gestalt demonstriert werden.

Die zweite These, Faust verkörpere das deutsche Wesen, erledigt sich von selbst: Wenn Faust irgendwo lokalisiert werden kann, dann in der gesamteuropäischen Geistesgeschichte, die geprägt ist von Antike, christlichem Mittelalter und neuzeitlicher Aufklärung. Ob Faust beispielsweise für die Menschen anderer Kulturen eine Bedeutung hat, sei dahingestellt. Jedenfalls ist seine Problematik – wenn nicht allgemein menschlich – so doch allgemein abendländisch-europäisch.

Spezifisch für dieses Weltbild ist z. B. die Aufteilung der Welt in Polaritäten. Die »zwei Seelen«, die in Fausts Brust wohnen, und worunter er (»ach«) leidet, bezeichnen zunächst einmal nichts anderes als die in unserem Kulturkreis angenommene Doppelnatur des Menschen als Trieb- und Geistwesen. Schon Albrecht von Haller hatte die Menschennatur als »unselig Mittelding von Engeln und von Vieh« (Gedanken über Vernunft, Aberglauben und Unglauben) bezeichnet. Und wenn Mephisto bei seinem ersten Auftritt als Hund erscheint (wenn auch verniedlicht zum putzigen Pudel), so personifiziert sich in ihm die andere, die triebhafte Natur Fausts, die – so darf man aus dem folgenden schließen – aufgrund seiner einseitig geistigen Tätigkeit bis ins fortgeschrittene Alter zu kurz gekommen ist. Seit dem Auftreten Mephistos jedenfalls fällt dieser Figur des freundlichen Teufels die Rolle des im weitesten Sinne Triebhaften zu. Daß ohne ihn bis zum bitteren – und dann doch noch in transzendentem Wohlgefallen sich auflösenden – Ende des zweiten Teils nichts mehr geht, ist die, man möchte fast sagen: ironisch-moderne, Aussage des ganzen Stücks.
Die Verjüngung Fausts jedenfalls – sei sie nun realiter erfolgt oder der Zaubertrank nur als ein libido- und potenzsteigerndes Mittel zu verstehen – führt zunächst dazu, daß er »Helenen in jedem Weibe« sieht. Helena ist hier nur Metapher für den Inbegriff der erotisch reizvollen Frau; daß Helenas »Schönheit« im Faust nie anders gesehen wird – nie und nimmer im Kantschen Sinne des »interesselosen Wohlgefallens« –, zeigt seine durch die Geburt Euphorions bezeugte geschlechtliche Vereinigung mit ihr im zweiten Teil. Doch dazu später.

Die sogenannte Gretchen-Tragödie folgt daraus zwangsläufig. Faust projiziert – wie es unromatischer und realistischer nicht geht – seine neugewonnene Libido auf das nächstbeste Mädchen, das er auf der Straße trifft. Das angeblich so unschuldige Kind läßt sich vom Schmuck, den Mephisto herbeischafft, schlicht und einfach kaufen: »Nach Golde drängt, / Am Golde hängt / Doch alles! Ach, wir Armen!«. Sie »sitzt nun unruhvoll, / Weiß weder, was sie will noch soll, / Denkt ans Geschmeide Tag und Nacht, / Noch mehr an den, ders ihr gebracht.«

Unschuld im sexualmoralischen Sinne hält sich nur so lange, bis sich eine geeignete Gelegenheit findet, sie aufzugeben. Freilich nennt sie es Liebe, und selbst Faust glaubt an sein »reines« Gefühl (»Ich bin ihr nah, und wär ich noch so fern, / Ich kann sie nie vergessen, nie verlieren«).

Daß das arme Gretchen, das sich nicht anders verhält als alle Mädchen in ihrer Situation sich verhalten hätten, dann ihr und Fausts Kind töten muß und dafür zur Rechenschaft gezogen wird, ist der lustfeindlichen bürgerlich-christlichen Moral zuzuschreiben, die das Triebhafte als lebensbestimmendes Element nicht zu akzeptieren bereit ist. So ist es nicht die individuelle Schuld Fausts, Gretchen ins Unglück gestoßen zu haben, sondern der Fluch, der nach christlichem Verständnis auf dem Menschengeschlecht seit dem Sündenfall lastet. »Eritis sicut Deus, scientes bonum et malum«, schreibt Mephisto ins Stammbuch des Schülers. Die Erkenntnis des Guten und des Bösen, die mit dem biblischen Sündenfall einhergeht, schlägt sich zu allererst in der Sexualmoral nieder. »Und sie erkannten, daß sie nackt waren«. So hat letztlich Mephistos »Muhme«, die Schlange, eine Polarität herbeigeführt, an der die Menschheit ewig leiden wird: »Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust«.

Diese schon alttestamentarisch verbürgte und das Christentum und damit die abendländische Moral prägende 'Verteufelung' des Sexuellen ist freilich in keiner Weise einzusehen. Als Gegenentwurf steht hier die antike Kultur, die einen derart schuldbehafteten Eros nicht kannte. Helena im zweiten Teil des Faust wird somit zum Gegenbild Gretchens. Sie hat schon einiges hinter sich: »Du aber hochbegünstigt, sonder Maß und Ziel, / In Lebensreihe sahst nur Liebesbrünstige, / Entzündet rasch zum kühnsten Wagstück jeder Art.« Ausgerechnet Mephisto in der Verkleidung der Phorkyas wirft Helena ihre zahlreichen Liehaber vor. Daß Mephisto in allen dem Bereich der Antike zugeordneten Szenen wenig bis gar nichts vermag, macht deutlich, daß die griechisch-heidnische Vorstellungswelt als integrativer Bestandteil der Fausttragödie ein gleichberechtigtes Alternativkonzept zur christlichen Moral – zu der eben auch der Teufel gehört – bietet.

Aus dem bisher Gesagten ergibt sich ganz von selbst: Der erste Teil des Faust ist ohne den zweiten gar nicht denkbar. Ein großer Aufwand wäre schmählich vertan, wenn sich Vor- und Nachteile von Fausts Teufelspakt auf die Verführung eines jungen Mädchens und dessen unseliges Ende beschränken würden. Das wäre ein bürgerliches Trauerspiel, nichts weiter. Daß der Faust zum Menschheitsdrama wird, verdankt er erst dem zweiten Teil, der vor allem in der klassischen Walpurgisnacht und der Helena-Handlung Raum und Zeit transzendiert, aber die Ur-Polarität von Trieb und Geist eben auch um die Polarität von nordisch-christlich und südlich-antik erweitert und differenziert, deren Synthese in der Gestalt des hochfliegenden aber in seiner Maßlosigkeit lebensunfähigen Euphorion letztlich scheitert. (In Euphorion hat Goethe übrigens ein Bild des griechenlandbegeisterten romantischen Dichters Lord Byron gegeben, der als Teilnehmer am hellenischen Freiheitskampf starb).

War der Faust des ersten Teils ursprünglich bestimmt vom Streben nach Erkenntnis, also geistigem Durchdringen der Welt, so ist er vom Auftreten Mephistos an bis zum Ende der Helena-Geschichte auf verschiedenen Stufen dem Lebensgenuß ergeben: »Dem Taumel weih’ ich mich, dem schmerzlichsten Genuß, / [...] Mein Busen, der vom Wissensdrang geheilt ist, / Soll keinen Schmerzen künftig sich verschließen« – dessen Eignung zu dauerhaftem Glück er freilich von Anfang an mißtraut: »Kannst du mich mit Genuß betrügen – / Das sei für mich der letzte Tag! /[...] Werd ich zum Augenblicke sagen: / Verweile doch, du bist so schön! / Dann magst du mich in Fesseln schlagen, / Dann will ich gern zugrunde gehn.«
Genuß aber ist an die Sinne gebunden, damit an die Sinnlichkeit, die den Eros ebenso umfaßt wie die Kunst. Nach der Erfahrung der im christlichen Norden schuldbeladenen Sinnlichkeit führt der Weg Fausts in die Welt der Antike. Hier entfaltet sich ein Kaleidoskop von Trugbildern, deren 'Realitätsgehalt' gar nicht bestimmbar ist, eine »klassich-romantische Phantasmagorie«, wie Goethe selbst den zweiten Akt der Helena-Handlung benennt. Es ist die Welt der Kunst: im doppelten Sinne von künstlich und künstlerisch, damit gleichzeitig die Welt des schönen Scheins, der Ästhetik in ihrem Verzicht auf Erkenntnis der Wahrheit: »Am farbigen Abglanz haben wir die Welt«.

Vom geistigen Durchdringenwollen der Welt zu ihrer sinnlichen Erfahrung, von der Metaphysik zur Ästhetik geht also zunächst Fausts Weg, auf dem er – über die Sinne Eindrücke empfangend – notwendigerweise passiv geblieben ist. In einem nächsten Wandlungsschritt wird Faust erstmalig aktiv: Er will die Welt verändern. Die Tat ist es nunmehr – bereits zu Anfang des ersten Teils in seinen Übersetzungsversuchen vorgeahnt – der er sein weiteres Leben widmen will. Daß aus dem Himmelsstürmer und Helenabeschwörer zum Schluß ein Deichbau-Ingenieur wird, mag auf den ersten Blick enttäuschen. Man neigt vielleicht dazu, Goethe einen bürgerlichen Nützlichkeitsoptimismus vorzuwerfen, oder – je nach Standpunkt – erleichtert aufzuatmen: Endlich ist Faust vernünftig geworden.

Was man gerade bei der letzten Wandlung gerne übersieht: Die Faustische Tätigkeit, pro forma für das Allgemeinwohl, entspringt zunächst krassem Machtwillen (»Herrschaft gewinn ich, Eigentum! / Die Tat ist alles, nichts der Ruhm«), wird mit unlauteren Mitteln (Unterstützung des korrupten Kaisers) erlangt und läßt sich nur durch menschenverachtende Maßnahmen überhaupt durchführen. Am deutlichsten kommt Fausts unmenschliche Handlungsweise in der Philemon-und-Baucis-Geschichte zum Ausdruck. Wenngleich er auch die teuflische Radikallösung nicht gewollt hat (Abbrennen von Hütte und Kirche und Tod der beiden Alten), so hat er sie doch eingeleitet. Überhaupt hat jetzt Mephisto, der in den antikischen Teilen stark zurücktreten mußte, wieder fest das Szepter in der Hand. Es kann gar keine Rede davon sein, daß Faust nun in irgendeiner Form etwas Positives geleistet hat. Es ist im Grunde ein Abstieg zum übelsten Machtmenschentum; der Faust des letzten Aktes ist einsam wie nie zuvor, und die Blendung durch die allegorische Figur der Sorge spricht für sich: er ist in seinem Wahn wahrhaft verblendet.

Erst wenn man sich diese Situation klarmacht, bekommt seine letztliche Rettung »von oben« ihren Sinn: Trotz seines »strebenden Bemühns« ist der Mensch aufgrund seiner Natur nicht fähig, sich zu erlösen. Er ist ein verfluchtes Geschöpf, zur Tugend und Güte gar nicht wirklich fähig außer als Vorwand für seine Gelüste, seien sie sexueller Art oder durch Machtstreben diktiert (was ja auch irgendwie zusammenhängt). Ebenso düster erscheint die Zukunft der Menschheit: In allen Versuchen, mittels Technik und Industrie sich die Natur dienstbar zu machen, hat von vornherein der Teufel seine Finger im Spiel. Die Opfer an Menschen und Menschlichkeit, die das industrielle Zeitalter fordert, sind im letzten Akt des Faust bereits vorausgeahnt. So ist die vielzitierte Vision Fausts eben wiederum nur ein Trugbild: »Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn. / Zum Augenblicke dürft’ ich sagen; / Verweile doch, du bist so schön!« Und der Spott Mephistos ist so unberechtigt nicht: »Ihn sättigt keine Lust, ihm gnügt kein Glück, / So buhlt er fort nach wechselnden Gestalten; / Den letzten, schlechten, leeren Augenblick, / Der arme wünscht ihn festzuhalten.«

Was im Faust zum Ausdruck kommt, ist ein pessimistisches Menschenbild, zugleich aber ein optimistisches Weltbild. Die Aufklärung hatte seit Rousseau gepredigt, der Mensch sei von Natur aus gut. Wenn er sich böse verhält, sind die Umstände schuld daran. Darüber hinaus glaubte man, der Mensch bedürfe nur der 'Aufklärung', also der Erkenntnis, dann werde er ganz automatisch das Richtige tun: Vernünftig ist gleich gut.

Das Menschenbild Goethes, wie es uns in Faust begegnet, ist in allem das Gegenteil. Und trotzdem gibt es eine Hoffnung: die Erlösung durch höhere Mächte. Bei aller geradezu katholisch anmutenden Bildhaftigkeit der letzten Szenen freilich soll man nicht vorschnell auf allzu-christliches Gedankengut schließen. Man könnte sagen: der ganze Aufwand von Engeln bis hin zu dem auf und abschwebenden Pater ecstaticus bietet sich als opulentes Bildmaterial an, um dem ganzen Werk einen angemessen pomphaft-opernhaften Schluß zu geben. Daß auf christlich-katholische Symbolik zurückgegriffen wird, hat dabei trotzdem seine innere Berechtigung. Denn die Idee eines durch sich selbst nicht zur »Erlösung« fähigen Menschen ist nun einmal genuin dem katholischen Denken eigen. Die Affinität der Romantik, die ja den Fortschrittsoptimismus der Aufklärung ebenso wenig teilte wie Goethe, zum Katholizismus (man denke nur an die Konversion Clemens Brentanos und anderer) ist ein zeittypisches Phänomen.

Daß die ganze katholisierende Schlußszenerie nicht so ganz ernst gemeint sein kann, zeigt die überraschende Wendung, die Fausts Rettung 'technisch' erst möglich macht: Mephisto, der aufpassen soll, daß ihm Fausts Seele nicht entwischt, wird abgelenkt von den erotisch reizvollen Engeln: »So sieh mich doch ein wenig lüstern an! / Auch könntet ihr anständig nackter gehen / Das lange Faltenhemd ist übersittlich – / Sie wenden sich – Von hinten anzusehen – / Die Racker sind doch gar zu appetitlich!« Diese Ablenkung führt dazu, daß die Engel Fausts Seele entführen können: »Die hohe Seele, die sich mir verpfändet, / Die haben sie mir pfiffig weggepascht. [...] / Ein großer Aufwand, schmählich! ist vertan, / Gemein Gelüst, absurde Liebschaft wandelt / Den ausgepichten Teufel an.« So führt das Lustprinzip – symbolisiert in der Gestalt Mephistos – letztlich zu dem, was es ein langes Leben lang verhindern sollte: zur Erlösung des Menschen aus seiner Zwienatur. Ein ironischer Schluß, der die menschliche Existenz auf befreiende Weise nicht ganz ernst nimmt.